Peking - Klar, alles wird schneller, höher und stärker. Das ist Olympia. Und so darf nicht überraschen, dass rund um die Welt richtiggehend erwartet wird, am Samstag um 16.30 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, um 22.30 Pekinger Zeit, werde der vorderhand einmal ultimative 100-Meter-Lauf über die Bühne gehen.
Weltrekord sowieso, denn darauf haben die Chinesen Bedacht genommen: auf eine eisharte und also sauschnelle Laufbahn, deren Ausrichtung in der Hauptwindrichtung liegt. Nicht nur deshalb sprechen manche von einer olympischen Premiere, sprechen davon, dass erstmals alle Finalisten unter zehn Sekunden bleiben.
An der Spitze dieses fliegenden Feldes werden, hört man, zwei Jamaikaner und ein US-Amerikaner liegen. Der mit 9,72 Sekunden regierende Weltrekordler Usain Bolt. Der mit 9,77 und 9,74 doppelte Weltrekordler Asafa Powell. Und der aus Lexington, Kentucky stammende Tyson Gay, der im heurigen Juni schon 9,68 gelaufen ist.
Damals, bei den US-Trials, schob ihn mit 4,1 Metern pro Sekunde unerlaubt starker Rückenwind. Allerdings kennt er dadurch als Einziger der Favoriten das Gefühl, unter 9,70 zu laufen. Um Bolt zu schlagen, meint er, sei so etwas, eine 9,60er-Zeit, auch notwendig. Also "stelle ich mich gedanklich schon darauf ein".
Mitentscheidend für die angesagt Mutter aller Sprints könnte aber auch - klagt Jamaikas Delegationsleiter Don Anderson - die Dopingjagd sein. Unüblich oft seien Bolt und Powell schon zu Tests geladen worden. Powell vor allem. "Die Tester haben Asafa Powell so oft gerufen und so viel Blut von ihm genommen, dass er Folgen für seine Leistung befürchtet" - während der regierende Weltmeister aus den USA bisher erst einmal kontrolliert wurde.
Was Jamaika fehlt
Dem IOC geht's darum, eine neuerliche "Causa Ben Johnson" zu unterbinden. 1988 in Seoul hatte der kanadische Sprinter, aufgeblasen wie ein Luftballon, 9,79 in die olympische Finalbahn gestampft - zur ewigen Mahnung an die präventive Dopingjagd. Und da Jamaika keine nationale Antidoping-agentur hat, wird nun eben besonders genau geschaut, obwohl die US-Amerikaner diesbezüglich nachweislich auch keine reinen Lamperln sind, wie der Fall Marion Jones zeigt, die aus anderen Gründen zurzeit im texanischen Fort Worth einsitzt.
Die Voraussetzung all dessen, das von den Olympiern blauäugig in die Welt gesetzte "citius, altius, fortius", das es so im antiken Vorbild ja nicht gegeben hat, begann eigentlich erst im Jahr 1912 in Stockholm. Der US-Amerikaner Donald Lippincott lief in handgestoppten 10,6 (also 10,6 irgendwas) zu Olympiagold. Den ersten elektronisch gestoppten Weltrekord gab es 20 Jahre später: 10,64. Die Schallmauer durchbrochen wurde 1968: US-Sprinter Jim Hines lief 9,95. Die 9,90 fiel mit Carl Lewis 1991 in Tokio - 9,86. Die 9,80 mit Maurice Greene 1999 in Athen - 9,79. Von da an schraubte Asafa Powell den Weltrekord bis auf 9,74, eine Marke, die erst von Usain Bolt auf eine neuerliche Absprunggröße reduziert wurde. Wenn die Dopingjäger keinen Strich durch die Rechnung machen, wird zu diesem Sprung nun angesetzt.
Ungewiss freilich, ob man sich eher den Sprung oder den Strich wünschen sollte. Denn dass Olympia in Peking dopingfrei abläuft, glaubt wahrscheinlich nicht einmal Peter Schröcksnadel. In den Tagen vor den Spielen wurden elf russische Athleten, darunter drei Läuferinnen mit Chancen auf viermal Gold, sowie ein griechischer 200-m-Läufer aus dem Verkehr gezogen. Und das alles für eine knappe Sekunde in nicht ganz 100 Jahren, eine Sekunde, die nun kompletter werden könnte. Für die Illusion des Einlaufens in eine vage Ewigkeit. (sid, wei, DER STANDARD Printausgabe 16.08.2008)