Glauben Sie nicht an ein ausschließlich lokales Problem: Dies ist wahrscheinlich der wichtigste Wendepunkt in der europäischen Geschichte seit dem Fall der Berliner Mauer. Hören Sie genau zu, was Moskau sagt.

"Völkermord!" klagt gerade Putin, der sich nicht einmal dazu herabließ, dieses Wort zum 50. Geburtstag von Auschwitz zu gebrauchen; "München!" mahnt der sanfte Medwedjew und impliziert damit, dass Georgien mit seinen viereinhalb Millionen Einwohnern die neue Inkarnation des Dritten Reiches ist. Wir täten gut daran, die intellektuellen Kapazitäten dieser beiden Machtmenschen nicht zu unterschätzen. Auch so aber können wir annehmen, dass ihr geheucheltes und überspitztes Entsetzen den Weg dazu ebnen soll, mit aller Macht zuzuschlagen. Augenscheinlich haben Spindoktoren des Kreml die klassische Strategie der totalitären Propaganda wieder aufgewärmt: je größer meine Lüge, desto stärker schlage ich zu.

Wer hat letzte Woche zuerst geschossen? Die Frage ist irrelevant. Die Georgier haben sich aus Südossetien zurückgezogen, einem Gebiet, das durch das internationale Gesetz - erinnern wir uns trotz allem daran - unter seinen Schutz gestellt wurde. Sie haben sich aus den benachbarten Städten zurückgezogen. Sollen sie sich jetzt auch aus ihrer Hauptstadt zurückziehen? Tatsächlich ist es so, dass die Offensive der russischen Armee außerhalb ihrer Grenzen gegen ein unabhängiges Land das Mitglied der UNO ist, etwas darstellt, was seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen ist, um genau zu sein seit der Invasion von Afghanistan. 1989 hatte Gorbatschows sich geweigert, sowjetische Panzer gegen die Solidarnosc in Polen zu schicken. Auch Jelzin hat fünf Jahre später seinen russischen Divisionen nicht erlaubt die jugoslawische Grenze zu überschreiten um Milosevic zu unterstützen. Putin selbst war nicht das Risiko eingegangen, seine Truppen gegen die Rosen-Revolution (Georgien 2002) oder gegen die Orangene Revolution (Ukraine 2004) einzusetzen. Heute ist alles anders. Wenn wir nicht aufpassen, wird eine neue Welt mit neuen Regeln vor unseren Augen entstehen.

Worauf warten die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, um die Invasion von Georgien, eines befreundeten Landes, zu verhindern?

Werden wir sehen, wie der pro-westliche und demokratisch gewählte Michail Sakaschwili gestürzt und ins Exil getrieben und von einer Marionette ersetzt, oder gleich selbst am Ende eines Fadens hängen wird? In Tiflis dieselbe Ordnung einziehen, wie sie 1956 in Budapest 1968 in Prag eingezogen ist? Auf diese einfache Frage gibt es eine Antwort, nur eine. Wir müssen diese Demokratie retten, eine Demokratie die vom Tode bedroht ist.
Denn es betrifft nicht nur Georgien. Dieselbe Logik bedroht die Ukraine, Aserbeidschan, Zentralasien und Osteuropa - also Europa selbst. Wenn wir zulassen, dass die Panzer und Bomber Georgien zerstören, schicken wir an die Nachbarn von Groß-Russland die Nachricht, dass wir sie nie verteidigen werden, dass unsere Versprechen nur auf dem Papier gemacht wurden, dass unsere edlen Gefühle heiße Luft sind und dass man sich von uns nichts erwarten darf.

Die Zeit drängt

Wir haben kaum noch Zeit. Fangen wir also an, indem wir den Aggressor klar benennen: das Russland von Wladimir Putin und Dimitri Medwedjew, diesem berühmten "Liberalen" , den niemand kennt. Der zweite Schritt muss sein, mit unserer ewigen Unentschlossenheit und unserer Augenauswischerei Schluss zu machen: die 200.000 Toten von Tschetschenien - "Terroristen" ; das Schicksal des nördlichen Kaukasus - eine "interne Angelegenheit" ; Anna Politkowskaja - eine Selbstmörderin; Litwinienko - ein UFO...

Geben wir endlich zu, dass die Autokratie Putins, die 1999 aus den ungeklärten und blutigen Attentaten in Moskau entstanden ist, kein verlässlicher Partner ist und sicherlich keine freundliche Macht. Mit welchem Recht ist dieses aggressive, bedrohliche und falsch spielende Russland noch ein Mitglied der G8? Warum hat es einen Sitz im Europarat, einer Institution, die die Werte unseres Kontinents verteidigen soll? Was nützt es, besonders von deutscher Seite riesige Investitionen in Gaspipelines durch die Ostsee zu machen, nur um Russland den Vorteil zu verschaffen, seine Pipelines nicht durch die Ukraine und Polen führen zu müssen?

Wenn der Kreml bei seiner aggressiven Haltung im Kaukasus bleibt, sollte die Europäische Union dann nicht ihre Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn grundlegend neu überdenken? Russland muss sein Öl genauso dringend verkaufen wie wir es kaufen müssen. Wenn Europa mutig genug ist, seinerseits Forderungen zu stellen, ist es stark. Wenn nicht, dann ist es tot.

Die beiden Unterzeichner dieses Artikels haben am 29. März 2008 in einem offenen Brief an Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gefordert, die Vorbereitungen zur Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens nicht zu verhindern. Eine positive Entscheidung, schrieben wir, würde "die Territorien von Georgien und der Ukraine schützen. Das Gas würde weiter kommen.

Die "Logik des Krieges" , die unsere Kleingeister so verschüchtert, wäre bald gebremst. Unsere Weigerung würde ein verheerendes Signal and die national-kapitalistischen Zaren von Russland senden. Es würde ihnen zeigen, dass wir unentschlossen und willensschwach sind, dass Georgien und die Ukraine Territorien sind, die zurückerobert werden können, und die wir gerne auf dem Altar ihrer imperialen Ambitionen opfern. Diese Länder nicht zu integrieren, oder ihre Integration nicht einmal ins Auge zu fassen, würde die Region destabilisieren. Wenn wir Wladimir Putin nachgeben, wenn wir ihm unsere Prinzipien opfern, dann stärken wir den aggressiven Nationalismus in Moskau."

Damals dachten wir an die schlimmste aller Möglichkeiten, ohne wirklich daran zu glauben. Heute ist diese Möglichkeit Realität geworden. Um Moskau nicht zu verärgern, haben Frankreich und Deutschland durch ein Veto die Integration der beiden Länder verhindert. Russland hatte die Botschaft verstanden und sozusagen als Dankeschön seine Offensive begonnen.

Olympiade des Schreckens

Wir müssen unsere Strategie ändern. Aufgrund ihrer Zerstrittenheit haben die Europäer ohnmächtig zusehen müssen, wie Sarajewo belagert wurde. Sie waren Zeugen der Zerstörung von Grosny, die sie in ihrer Blindheit nicht wahrnehmen wollten. Sollte uns unsere Feigheit auch diesmal zwingen, passiv und kurzatmig mitanzusehen, wie die Demokratie in Tiflis kapituliert?

Der Generalstab im Kreml hat noch niemals an die Existenz einer Europäischen Union geglaubt. Man weiß dort, dass unter den schönen Worten aus Brüssel endlose Rivalitäten zwischen den nationalen Interessen brodeln, die sich einfach manipulieren lassen und einander lähmen.

Der Testfall Georgien wird zeigen, ob es diese Europäische Union wirklich gibt oder nicht, dieses Europa, das sich als Opposition zum Eisernen Vorhang konstituiert hat, gegen die Faschismen von gestern und heute, gegen seine eigenen kolonialen Kriege, dieses Europa, das den Fall der Mauer gefeiert und die samtenen Revolutionen begrüßt hat, und das jetzt fast im Koma liegt. 1945-2008...

Werden wir sehen, wie unsere kurze gemeinsame Geschichte bei der Olympiade des Schreckens im Kaukasus ihr Ende findet? (DER STANDARD, Printausgabe, 14.8.2008)