Mit dem Apfel, der auf Isaac Newtons Kopf fiel, begann die Erforschung der Schwerkraft. Jetzt sind Satelliten an der Reihe.

Illustration: DER STANDARD

Fast 40 Jahre hat es bis zur Verwirklichung dieser Idee gedauert, am 10. September ist es endlich so weit: Dann wird der ESA-Satellit GOCE von Russland aus seine Mission im Weltall antreten. Drei Jahre lang wird er in einer für Satelliten extrem niedrigen Flughöhe von 260 km die Erde umkreisen, um Daten über das Gravitationsfeld unseres Planeten und den stationären Zustand der Ozeanzirkulation zu sammeln.

Das "Gravitations- bzw. Schwerefeld", so Hans Sünkel, Rektor der TU Graz und einer der federführenden Wegbereiter der GOCE-Mission, "spielt sowohl für die Geophysik als auch für die Ozeanografie eine zentrale Rolle". Denn die von GOCE gelieferten Daten über das Schwerefeld der Erde werden gebraucht, um exakte Modelle des sogenannten Geoids zu erstellen. Das Geoid, eine Fläche gleichen Schwerepotenzials entlang eines hypothetischen ruhenden Ozeans, ist die klassische Bezugsfläche für die Beschreibung aller topografischen Eigenschaften der festen und flüssigen Erdoberfläche. "Seine genaue Bestimmung ist insbesondere für globale Positionierungsaufgaben, die Erforschung der Prozesse im Erdinneren, der Ozeanzirkulation oder der Meeresspiegeländerungen von enormer Bedeutung", erklärt der Experte für Satellitengeodäsie.

Im Vergleich zu Schweremessungen, die auf der Erde durchgeführt werden, liefern die Messungen aus dem Weltraum innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit sehr detaillierte Daten des gesamten globalen Gravitationsfeldes. Um das System der Erde und damit auch klimarelevante Aspekte zu erforschen, wurde von der ESA das aus sechs Missionen bestehende "Earth Explorer Programme" ins Leben gerufen. Die 300 Millionen Euro teure GOCE-Mission, an deren Vorbereitung insgesamt zehn europäische Institutionen beteiligt sind, ist die erste davon.

Meeresströmungen und Klima

Indem man nun die GOCE-Daten mit den Informationen der von anderen, beträchtlich höher fliegenden Satelliten abgetasteten tatsächlichen Meeresoberfläche kombiniert, kann man die Meeresströmungen erfassen. "Kennt man die Strömungen, weiß man auch, wie das Wasser umverteilt wird", erläutert Hans Sünkel. "Da Wasser ein guter Wärmespeicher ist, erfährt man auf diese Weise, wie die Wärme global verteilt wird, und bekommt damit wichtige Informationen für die Wetter- und Klimavorhersage."

Die TU Graz spielt bei diesem internationalen Großprojekt eine zentrale Rolle, denn am Institut für Navigation und Satellitengeodäsie ist die einzige Forschungsgruppe in Europa beheimatet, die neben einer hochgenauen auch schnelle Schwerefeldlösungen machen kann. An die 70.000 Parameter des Gravitationsfeldes müssen von den Wissenschaftern aus der von GOCE und den anderen Satelliten gemessenen Flut von hunderten Millionen Daten ermittelt werden. "Diese Berechnungen sind numerisch höchst aufwändig und benötigen eine Rechenzeit von mehreren Wochen", berichtet der ehemalige Sünkel-Student und nunmehriger Projektleiter Roland Pail.

Gigantische Datenmengen

Gemeinsam mit Kollegen der Universität Bonn und der TU München hat er mit seinem Team drei Jahre lang das hochkomplexe System für diese Rechenaufgabe konzipiert. Zwölf Forscher und Forscherinnen haben an der Softwareentwicklung gearbeitet, und auch die eingesetzte Hardware sprengt die üblichen Maßstäbe: "Um diese riesigen Gleichungssysteme zu lösen, müssen mehrere große Computer-Clustersysteme zusammenarbeiten", sagt Pail.

Die vom Erdbeobachtungssatelliten gesammelten Datenmengen, die über die zentrale Bodenstation in Schweden und nach einer Vorverarbeitung im italienischen Frascati nach Graz gelangen werden, sind gigantisch: Um sich eine Vorstellung davon machen zu können, hat sich Sünkel einen Vergleich ausgedacht: "Würde man dieses Gleichungssystem zu Papier bringen, so könnte man eine dreispurige Autobahn, die fünfmal um die Erde führt, dicht bedrucken!"

Warum GOCE seine Runden so nahe an der Erde zieht, hat einen triftigen Grund: Da die Dichte der Atmosphäre und die dazugehörigen Kräfte mit der Höhe abnehmen, können aussagekräftige Daten nur in relativer Erdnähe gemessen werden. Durch die niedrige Flughöhe wirken aber extrem starke Kräfte aufgrund des noch vorhandenen Widerstands der Atmosphäre auf den Satelliten. "Wenn man diese Kräfte nicht durch ein aktives Antriebssystem kompensieren würde, wäre GOCE spätestens nach zwei Wochen wieder auf der Erde", erklärt Pail. Rund 20 Monate - länger reicht der Treibstoff nicht - wird GOCE also an seiner "Todeszone" entlangfliegen, bevor er im All verglüht. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2008)