Reichenau - Vor dem Ruhestand, das politisch finsterste der Thomas-Bernhard-Stücke, schmiegt sich vorzüglich in den Bergschatten, in dessen Ausläufern der Reichenauer Thalhof liegt. Bleibt dieser für gewöhnlich Arthur-Schnitzler-Aufführungen vorbehalten, so hat Regisseurin Helga David mit Bernhards Ruhestand ein gleichsam logisches Anschlussstück gefunden.

In den stuckverzierten Gemäuern, vor honiggelb brennenden Lampenpaaren, arbeitet ein artistisches Schauspielertrio an der exzessiven Vergegenwärtigung einer letztlich nicht zu bewältigenden Mordlast. Vor dem Ruhestand versammelt beide denkmöglichen Bernhard-Figurentypen: die an Logorrhoe erkrankten, völlig monomanisch veranlagten Wort- und Mordtäter - und deren perfide aufsässigen Stichwortgeber.

Alljährlich zu Himmlers Geburtstag veranstaltet der pensionsreife Gerichtspräsident Höller (Volker Lippmann) eine Art Karneval der NS-Beschwörung. Höller, ein neurasthenisch abgelebter Hysteriker, schlüpft in die von seiner Lieblingsschwester Vera (Doina Weber) aufgebügelte SS-Uniform und reklamiert seine verloren gegebene Allmacht zurück: als Todesjurist und "stellvertretender Lagerkommandant", der im Champagnervollrausch den Inzest mit Vera vollzieht und die querschnittgelähmte Zweitschwester (Gabriela Hütter) mit KZ-Häftlingsrollenspielen zu demütigen versucht.

Bernhards Text, anno 1978 auf den baden-württembergischen Ministerpräsident Filbinger gemünzt, hallt wider von einem tödlichen Lachen. Davids Inszenierung glückt famos, weil sie die geschickt ineinander verschränkten Erzählteile nicht auseinanderreißt, sondern die "Perversion" des Verkleidungsspiels als überlebensnotwendiges Genussmittel zur Darstellung bringt.

Es gibt wunderbare Schauspielerleistungen zu bestaunen: die verkniffene Erotik der bügelnden Todesschwester (Weber), die wie eine Königsschlange durch den Salon fegt und ihre schmal in den Rollstuhl gepresste Schutzbefohlene (Hütter) spöttisch niederzüngelt. Die das hennarote Haar zu Zöpfchen flicht und "im Frühtau zu Berge" zu ziehen wünscht.

Ihr Gerichtspräsident ist ein unmanierlicher Spießer mit nach hinten geklatschten Haaren, der sich in eine SS-Charge umbaut, die erst in ihren Knobelbechern pistolenfuchtelnd einen freilich milden Schrecken erregt. Und Claras Augen glänzen tränennass vor Wut und Scham. Großes Theater, auf keine Weise "sommerlich". (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 12.08.2008)