Es ist Freitagabend. Im Salomon Sulzer Saal, wo bis vor wenigen Jahren Löschfahrzeuge parkten, sammeln sich alte, jüngere, junge Menschen. In mehreren Sitzreihen nehmen sie Platz zum Kiddusch, dem Segensspruch für den Sabbat. Die zwei Frauen in der Mitte des Kreises, die in englischer Sprache begrüßen, tragen die traditionelle Kopfbedeckung, die Kippa.

Marlena Taenzer ist Kantorin. Ihre Stimme erfüllt die ehemalige Synagoge, die nach dem Wegzug der letzten Displaced Persons zum Spritzenhaus umfunktioniert worden war und seit 1991 für Konzerte der Musikschule und für Veranstaltungen des Jüdischen Museums genutzt wird. Lieder wie "Bim Bam ... Schabbat Schalom" sind vielen vertraut, sie singen oder summen mit, die Kantorin übernimmt die Stimmführung.

Auch ihr Mann Uri ist da. Er ist ein Enkel von Aron Tänzer: Der hier ansässige Rabbiner für Tirol und Vorarlberg veröffentlichte 1905 die erste Geschichte der Juden in Hohenems. An Marlenas Seite betet Rabbi Lisa Goldstein. Sie erklärt und vollzieht die Segnungen, die in jüdischen Familien zu Hause stattfinden. Kerzen, Kinder, Wein, Brot rücken nacheinander ins Zentrum des Geschehens.
Frau Goldstein setzt ihre Handlungen so strahlend, voll inniger Beseeltheit, dass man sich fragt, ob das einfach ihre Art ist oder ob diese besondere Stimmung von Freude und Staunen darüber rührt, dass "right here, right now" so einzigartig verbundene Menschen zusammengefunden haben. Lisa Goldstein ist erstmals beim Mehrfamilientreffen. "Reunion" heißt es, denn schon 1998 sind 160 Nachfahren in Hohenems zusammengekommen.

Damals wusste die Rabbinerin noch nichts von Vorarlberg. Erst vor vier Jahren machte sich die Amerikanerin auf den Weg: mit ihrer 90-jährigen Großmutter auf Spurensuche nach Europa. In Hohenems besuchte man den 370 Grabsteine zählenden israelitischen Friedhof, wo Rachel Dreyfuss, Jakob Weil und andere Verwandte liegen. Heuer ist Lisa Goldstein mit ihrem Bruder Samuel gekommen, um mehr über die Familie zu erfahren. Ihren Stammbaum konnten die Geschwister durch die Archivalien des Jüdischen Museums ergänzen.

Die größten Clans sind die Rosenthals und die Brunners. Aus beiden Familien sind auch heuer zahlreiche Angehörige in Hohenems zu Besuch. Letztes Mal hätten Brunners die Überhand gehabt, dieses Mal gebe es einen leichten Vorsprung für Rosenthals, scherzt Zach Shimer, ein vitaler New Yorker, der Mann von Susan Shimer, geborene Rosenthal. Das Ehepaar hat zwei Generationen im Schlepptau, die Enkel beteiligen sich am museumspädagogisch begleiteten Nachwuchsprojekt. Gerade einmal sieben Jahre alt sind die jüngsten aktiven Teilnehmer des Treffens: Die Jungen begleiten die Tage mit Kamera und Mikrofon. So machen sie die Geschichte zu ihrem Thema. Gezeigt wird das drehfrische Video beim großen Galadiner in der ehemaligen Rosenthal-Fabrik.

Zeiten der Gefahr

Susan Shimer, Nachfahrin dieser Rosenthal-Linie, war auch beim ersten Treffen 1998 schon dabei. Wesentliche Motivation damals war für sie, jemanden aus der Familie Brunner wiederzusehen. Die "Hohenems-Connection" hatte sich in Zeiten der Gefahr bewährt: Frau Shimer erinnert sich gut an den Kindergeburtstag im Jahr 1940, den die Gastgeber in Triest - mit Luftballons! - für sie ausrichteten, in der Hoffnung, dass sich alles mit dem Schiff in die Staaten ausgehen würde.
Shimers Bezug zu Hohenems ist positiv: "Hohenems ist der erste Ort meiner Familie, von dem wir wissen. Während Juden an anderen Orten nicht leben durften, hat es hier geheißen: 'Kommt!' Hier haben meine Vorfahren ein gutes Leben gehabt. Und sie haben sich selbst entschlossen wegzugehen." Diese Situation eint viele Familien aus der seit je überschaubaren Gemeinde: Durch Heirat oder Wegzug aus dem kleinen Ort mit beschränkten Entfaltungsmöglichkeiten verteilten sich die Ex-Hohenemser schon früh und aus freien Stücken über Europa und die ganze Welt. Bei der Machtübernahme der Nazis - die ihr Ende bedeuten sollte - zählte die jüdische Gemeinde in Hohenems nur noch wenige Mitglieder.

Zu ihnen gehörten die Weils. Alois "Luis" Weil wurde 1938 nach Dachau deportiert, er ist eines der frühen Opfer des Holocaust. Seinem Bruder Harry glückte die Flucht in die USA. Der nach ihm benannte Sohn war damals acht. Heute schildert der leutselige Mann mit dem vollen weißen Schnauzer sein Leben als Kind: Die Familie war glücklich, die Synagoge "ein Platz, voll von Gott" und Hohenems "ganz gemütlich". "Eine gute Zeit" hätten sie hier gehabt, Harry Weil, der Linke, der als Chorleiter und Organist tätig war, und seine Frau, eine italienische Katholikin aus Bregenz. Dass die Eltern und der Bub fliehen mussten, dass der Vater sich später von den USA aus mehrfach bemüht hatte um Rückkehr und von den Behörden abgewiesen worden war, konnte dem Bezug zur Heimat nichts anhaben. Beerdigt sein wollte der alte Harry Weil hier.

Respekt und Interesse

"Er ist ein Hohenemser", sagt Harry Weil "Junior". Auch er, der "italienische Österreicher und katholische Jude in Amerika", der sich im Rheintal sichtlich wohlfühlt, möchte dereinst hier auf dem Jüdischen Friedhof bestattet werden. Heute aber ist ihm wichtig, dass seine Kinder mit angereist sind aus Los Ranchos, New Mexico. Und Lisa Goldstein erzählt, dass der junge Mark, katholisch aufgewachsen, sehr interessiert gewesen sei, etwas über das Judentum zu erfahren - noch dazu von einer Rabbinerin aus der Verwandtschaft ...

Wie Mark Weil sind viele der Anwesenden in nichtjüdischen Religionsgemeinschaften sozialisiert. Auch das macht eine Anknüpfung an das gegenwärtige Leben vor Ort möglich: Bei der Sonntagsmesse predigt Francis Wahle, der per Kindertransport nach London kam und heute dort Diözesanpriester ist. Er rührt an einen wunden Punkt. Recht einfach sei es, den für vier Tage anreisenden Besuchern mit Respekt, Interesse und Gastfreundschaft zu begegnen. Aber gilt das auch gegenüber "den vielen Ausländern im Ort", den verschleierten Frauen, den Menschen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei? Mit der Predigt holt der Pfarrer das Gemeindevolk in seinem Alltagsleben ab und schlägt eine Brücke zur Haltung des Museumsdirektors Hanno Loewy. Für ihn ist das Jüdische Museum, das 2007 seine Dauerausstellung auch mit Leihgaben der Nachkommen bestückt eröffnen konnte, ein kollektives Familiengedächtnis, aber auch Ort der Auseinandersetzung mit Fragen des Zusammenlebens in der Gegenwart.

Luisa Jaffé, wesentlich verantwortlich für die Reunion 2008, kann mehr als zufrieden sein. In lässigem Understatement meint sie, sie und ihre Mitstreiter hätten den "fun job" getan, während das Museumsteam für die Mühen der Organisation verantwortlich waren. An Arbeit wird es ihr auch künftig nicht mangeln, der Tochter von Felix Jaffé, der in Jerusalem das Nachkommentreffen erfunden hat, auch heuer da ist und unauffällig, aber mit eminenter Präsenz über alles wacht. Alle wünschen sich ein Wiedersehen. Angepeilt wird 2017. Das Datum bezieht sich auf die erste Ansiedelung: Mit dem Schutzbrief der Hohenemser Grafen von 1617 begann das Leben einer Gemeinde, die die Region mitprägen sollte und sich auch in der Diaspora als selbstbewusste Community der Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit versteht.  (Petra Nachbaur/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 8. 2008)