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In den vergangenen Tagen kam es im ganzen Land zu Demonstrationen.

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Präsident Evo Morales gerät immer weiter unter Druck.

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Grafittis pro Morales.

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Aufstände und Unruhen erschütterten Bolivien.

Boliviens Präsident Evo Morales stellt sich am Sonntag einem Referendum, das ihn, theoretisch, aus dem Amt jagen könnte. Der Unmut in dem Anden-Staat hat sich in den vergangenen Tagen in gewalttätigen Unruhen entladen. Der indigene Präsident stellt sein Volk vor die Wahl, entweder ihm und seinem Programm der Verstaatlichung der Bodenschätze zu folgen oder den Provinzgouverneuren, die für ein neoliberaleres Wirtschafsmodell stehen (derStandard.at berichtete). Dass Morales ernsthaft um sein Amt fürchten muss, glaubt Miguel Buitrago vom Hamburger GIGA Institut für Lateinamerika-Studien, im derStandard.at-Interview aber nicht.

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derStandard.at: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Präsident Evo Morales nach dem Referendum am Sonntag zurücktreten muss?

Miguel Buitrago: Wenn man sich die Prozentzahlen ansieht, ist die Chance nicht so hoch. Es braucht mindestens 55 Prozent der Stimmen, um ihn aus dem Amt zu entfernen. Er hat laut Umfragen noch immer mehr als 59 Prozent der Bevölkerung hinter sich, weshalb ich keine Möglichkeit sehe, Morales bei diesem Referendum abzuwählen. Das ist der eine Blick. Der andere Blick sagt aber, dass der Präsident im Moment nicht nur in der Opposition harte Widersacher hat, sondern auch in ehemaligen Unterstützern seines MAS (Movimiento al Socialismo, Anm.). Zudem ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Referendum kurzfristig abgesagt wird. Es gab in den letzten Tagen massive Unruhen mit zwei Toten, die oppositionellen Departamentos sind im Totalstreik, Tarija etwa ist für 24 Stunden in den Ausstand getreten. Morales steht unter einem extremen Druck, das kann man auch daran sehen, dass sich der Präsident in manche Provinzen nicht mehr wagt.

derStandard.at: Woher rührt diese extreme Polarisierung, ist es ausschließlich ein Konflikt Arm gegen Reich?

Miguel Buitrago: Es ist ein sehr komplexes Problem, das auch historische Gründe hat. Einfach ausgedrückt geht es um zwei Visionen, wie es mit dem Land in Zukunft weitergehen soll, die miteinander konkurrieren. Morales steht für Paternalismus, er will, dass der Staat eine große Rolle auch in der Wirtschaft spielt, was man etwa in der Verstaatlichung von Unternehmen oder anhand der Einführung eines neuen Rentensystems sieht. Auf der anderen Seite steht eine Vision, die sich für mehr Freiheit, mehr wirtschaftliche Entwicklung einsetzt und den Populismus Morales' ablehnt. Morales hat seiner Macht auch einen gewissen Autoritarismus beigefügt, wogegen viele Bolivianer eine Allergie haben.

derStandard.at: Nun scheint es, als verliere Morales auch innerhalb seiner Anhängerschaft zusehends an Boden. Wie kam es zu dieser Entzauberung des ehemaligen Hoffnungsträgers?

Miguel Buitrago: Außerhalb Boliviens erscheint die Masse der MAS-Unterstützer wie ein Monolith von Indigenen, die gegen die Reichen im Osten des Landes und die Ausbeutung kämpfen. Die MAS ist keine traditionelle politische Partei, sondern eher ein politisches Instrument, eine Allianz vergleichbar mit Sarkozys Partei in Frankreich (die gaullistische UMP, Anm.). Wenn Morales für die Rechte der indigenen Bevölkerung kämpft, ist diese Allianz sich einig, wenn es aber zum Beispiel um die Rentenfrage oder um Sozialversicherung geht, bricht die MAS förmlich auseinander. Viele Unterstützer von Morales, die ihm zwei Jahre und länger treu waren, sind nun innerhalb weniger Wochen zu Gegnern geworden.

derStandard.at: Könnte bei einem entsprechenden Ausgang des Referendums nicht ein politisches Vakuum entstehen, das die Krise noch verschärft?

Miguel Buitrago: Es war meiner Meinung nach schon vorher ein gewisses Vakuum da. Obwohl Morales die Wahl mit über 54 Prozent gewonnen hat, war seine Präsidentschaft bisher sehr schwach. Es fehlt eine politische Autorität in Bolivien, die dem Land wieder seine Einheit zurückgeben kann.

derStandard.at: Besteht die Gefahr, dass Bolivien an der aktuellen Krise zerbricht?

Miguel Buitrago: Im Moment sehe ich diese Möglichkeit nicht, eine Spaltung wäre in der Bevölkerung auch sehr unpopulär. Die bolivianische Identität beruht ganz stark auf der Einheit des Landes, auch für jene, die Autonomie für ihre Provinzen fordern. Wenn sich die Regierung aber zunehmend autoritär verhalten würde, gibt es aber schon die Gefahr, dass sich noch mehr Provinzen vom Zentralstaat abnabeln. Es gibt Berichte über Milizen, die sich in den Provinzen formiert haben.

derStandard.at: Ist Morales zuzutrauen, dass er die Abstimmung zu seinen Gunsten manipuliert?

Miguel Buitrago: Es gibt gewisse Indizien, die mich skeptisch machen. Venezuela hat zum Beispiel ein Ausweisprogramm für die bolivianische Bevölkerung finanziert, was eigentlich eine gute Sache wäre. Aber abgesehen davon, dass es seltsam ist, wenn das Ausland Ausweise zumindest zum Teil finanziert, ist es dabei zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Man hat entdeckt, dass in den Listen teilweise Menschen mit zwei oder drei Ausweisen registriert waren oder dass ein Ausweis für mehrere Leute ausgestellt wurde. 

Auf der anderen Seite haben internationale Organisationen diese Listen durchgesehen und sind zum Schluss gekommen, dass aus ihnen nicht genügend Potenzial für Fälschungen hervorgeht. Es gibt ja genügend Interessen von Seiten der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten, Anm.) und auch der UN, Bolivien stabil zu halten. Trotzdem, ich bin skeptisch. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 7.8.2008)