Salzburg - Die (deutschen) Geschichtslügen - sie liegen immer noch im Garten vergraben: die Heil-Hitler-Briefe und das Hakenkreuz. Drei Generationen einer Familie buddeln in Marius von Mayenburgs soeben bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtem Drama Der Stein in der Erde, um dort das Pflänzchen ihrer Schuldlosigkeit zu pflegen. In aufs Sachliche verknappten, an seinen Leerstellen umso eindringlicheren Dialogen legt Mayenburg den Bauplan für das familiäre Lügengebäude frei und behält in einer von fragwürdigen Cinemascope-Nazis und vom Anflug eines neuen Nationalismus irritierten zynischen Opfer- und Täterdebatte die Ruhe.

Wo das Gute aufhört, fängt notgedrungen das Böse an. Wenn aber das Gutsein von vornherein nur einen selbst betrifft, weiten sich die Grenzen. Und dieses stete, dem eigenen Fortkommen dienliche Umdeuten von Ereignissen markiert Mayenburg als gar nicht so schmalen Grat, der eine deutsche Familie in Zeitsprung-Dramaturgie durchs zwanzigste Jahrhundert führt. In ihrem Eigenheim, das sie 1934 einer jüdischen Familie abgekauft haben, und in das sie, nachdem sie es für die Flucht in den Westen verlassen haben, nun, 1993, wieder zurückkehren, schwellen die Lügen an, sodass die Mauern weinen (Musik: Patrik Zeller) und das Parkett unter Schmerzen Wellen schlägt (Bühne: Damian Hitz).

Regisseur Ingo Berk ist auf der Bühne des republic eine fabelhafte Exposition gelungen. Er führt ungleichzeitige Momente in einem Bild zusammen: Das Enkelkind (Elzemarieke de Vos) sitzt 1993 neben der jüdischen Hausbesitzerin von 1934 (Eva Meckbach) am Kaffeetisch.

Aufgetischte Lügen

Mit nur winzigsten Gesten in einer sich tableauartig verschiebenden Szene dringt Berk in die verdeckte Geschichte vor. Es genügt der entschlossene Griff, mit dem man der jüdischen Bewohnerin von einst das Kaffeehäferl wegnimmt, um an die scheinbar naive Grausamkeit hinter der schöngeredeten Fassade zu gelangen. Aufgetischte Lügen (etwa, dass der Vater den jüdischen Emigranten durch den Hauskauf die Flucht finanziert hat) werden Jahrzehnte später Brösel für Brösel dankbar vom Tisch geklaubt. Die Mutter (Judith Engel) gleitet als 20er-Jahre-Grazie im bodenlangen Seidenrock versponnen (oder: dumm) aufs frisch erstandene Teakholzmöbel, ihre Tochter (Bettina Hoppe), die Nachgeborene, klammert sich aus Angst vor der Wahrheit an die "Heldentat" des Vaters.

Das Zeitgefüge dieses hochsensiblen Entwurfs kann aber leider seinen dramaturgischen Ansprüchen nicht standhalten. Die auf Sekunden hin gedachte Inszenierung, die auch im Takt eines Metronoms beginnt, zerfließt mit wenigen Erholungsphasen allmählich in viele exquisite Ströme. Die anfangs noch als konstitutive Leerstellen erkennbaren Pausen schrauben sich später nur mehr bedeutungsschwer im Nichts fest. Reinste Millimeterarbeit, bei der sich der Regisseur dann doch vermessen hat. Möglich, dass ihm das die Jury des Young Director's Project, dem Salzburger Regie-Nachwuchswettbewerb, nicht verzeihen wird. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe, 02.08/03.08.2008)