Foto: derStandard.at, Gregor Plieschnig

Erica Riener, Leiterin von AMBER-MED

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AMBER-MED bietet Menschen anonym und kostenlos...

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medizinische Versorgung und Beratung an.

Das Gebäude liegt weit draußen, die S-Bahn fährt nur stündlich bei der nahen Station Inzersdorf vorbei, 400 Meter dahinter donnert der Verkehr über die Südost-Tangente. Die Gebäude in der Gegend sind schmucklos und klobig, eine große Filiale einer Handwerkerbedarfkette dominiert das Bild. Dort liegt das Katastrophenhilfezentrum des Roten Kreuzes. Direkt daneben ein modernes Gebäude mit viel Glas an dem große Plakate mit Rindsrouladen hängen, der Schriftzug Kulinarik prangt darunter. Im Erdgeschoß des Katastrophenhilfezentrums stehen etwa 20 Menschen in einer Schlange in einem hellen, sauberen Warteraum. Sie sind Flüchtlinge, AsylwerberInnen, Untergetauchte, die sonst keine medizinische Versorgung hätten.

Sein, auch wenn man krank ist

"Diese Menschen sind es nicht gewöhnt, ernst genommen, ja überhaupt wahrgenommen zu werden, aber hier sollen sie merken: du darfst sein, hier darfst du sein, auch wenn du krank bist", sagt Erica Riener, die Leiterin von AMBER-MED, eine Organisation, die Menschen kostenlos und anonym medizinische Versorgung anbietet. Am 12. Jänner 2004 startete AMBER-MED in einer Ordination im 4. Wiener Gemeindebezirk, 2006 übersiedelte man nach Inzersdorf. "Es ist mir schon wichtig zu sagen, dass das ganze Medizin- und Dolmetschteam, im Ganzen über 30 Menschen, ehrenamtlich und unbezahlt arbeitet."

Jährlich gibt es etwa 950 PatientInnen, 40 Prozent werden von anderen Betreuungs- und Beratungseinrichtungen überwiesen, die restlichen 60 Prozent kommen durch Mundpropaganda. AMBER-MED ist eine Kooperation zwischen dem Diakonie-Flüchtlingsdienst und dem Österreichischen Roten Kreuz, die Diakonie fungiert als Trägerverein, das Rote Kreuz unterstützt mit Medienpräsenz und Sachleistungen, vor allem durch den kostenlosen Zugang zu Medikamenten. Inzwischen wurde ein Netz von anderen Medizinern und Labors geknüpft, die auch kostenfrei für AMBER-MED-PatientInnen arbeiten. "Wir hatten einen Mann aus Rumänien oder Bulgarien, noch keine 40, seine Arbeitshand war verkrüppelt. Wir konnten durch unsere Kontakte eine ambulante Operation bei einem Arzt, die postoperative Betreuung bei einem anderen und die Therapie bei einem weiterem Arzt organisieren, das ganze kostenlos. Ein Dreiviertel-Jahr später konnte er wieder arbeiten", erzählt Riener.

Schlafstörungen, Kopfschmerzen

Die PatientInnen von AMBER-MED kommen aus der ganzen Welt, viele können kein Deutsch, viele sind auch in ihrer Muttersprache nicht alphabetisiert, dementsprechend schwer fällt das Deutschlernen. Die Krankheiten seien vielfältig, es gebe, so Riener, aber einige psychosomatische Symptome, die immer wieder auftauchen: "Kopfschmerzen, Probleme mit dem Rücken, der ganze Stützapparat des Körpers leidet." Häufig seien auch Schlafstörungen, Magen-Darm-Probleme, schlechte Zähne, aber auch Diabetes und Bluthochdruck: "Wenn wir eine besondere Diät als Therapie verschreiben, haben die Menschen kein Geld, die entsprechenden Lebensmittel zu kaufen." Am Nebengebäude flattert immer noch das Plakat mit den Rindsrouladen.

Viele leiden unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom, sie hatten nie die Gelegenheit, das Erfahrene zu verarbeiten. "Ein Großteil der Menschen, die herkommen, lebt oft über lange Zeit knapp an oder über der Verwahrlosungsgrenze; diese Menschen leiden unter extrem hohem Überlebensstress. Ich erlebe oft, dass sie wichtige Unterlagen versteckt bei sich tragen, und wenn wir ihnen Kopien davon geben und Klarsichtfolien, weil das Original schon fast zerfällt, stehen sie ratlos da, sie wissen nicht, wie sie es lagern sollten. Sie können in dem Stress des Überlebens einfach keine geregelte Existenz aufbauen, in der man Dokumente aufbewahrt".
Unter dieser Verwahrlosung leiden vor allem auch Kinder. Eltern die mit Überleben beschäftigt sind, schaffen es kaum, Zuwendung für sie aufzubringen. Auch leiden Kinder viel mehr an Mangelernährungen.

Aus der Grundversorgung gefallen

Dass AsylwerberInnen aus der Grundversorgung fallen, sei hausgemacht, so Riener: "Es werden ihnen Quartiere zugewiesen, die sie sich nicht selbst aussuchen können." AsylwerberInnen würden ungeachtet ihrer Herkunft zusammengeführt - TschetschenInnen mit RussInnen, orthodoxe ChristInnen mit MuslimInnen. Durch unterschiedliche Weltanschauung oder Alltagsrituale wie unter anderen Körperhygiene und Kochtraditionen komme es dann zu Konflikten. Wenn der Druck zu groß werde, verließen viele freiwillig die Quartiere und versuchten selbst, einen geregelten Alltag aufzubauen. Wenn sie dann einmal ohne Ticket in den Öffis aufgegriffen würden, kämen sie in Schubhaft, fielen aus der Grundsicherung. Aus Angst vor Abschiebung tauchten viele dann unter. In dieser manchmal jahrelangen Situation sei eine kostenlose und anonyme medizinische Versorgung essentiell, deshalb wurde AMBER-MED gegründet.

"Wir brauchen in unserem Land die Migranten, vor allem dann wenn sie Kinder haben oder bekommen. Wir müssen sie aber auch mit dem gebotenen Respekt behandeln." Erica Rieners Gesten werden lebhafter, wenn sie ihre Überzeugung ausspricht. "Diese Menschen müssen hier zu Gunsten kommender Generationen ein selbstbestimmtes Leben aufbauen können, sonst wird unsere Gesellschaft viel Aufwand betreiben müssen, deren Kinder zu integrieren.
Das kann doch nicht unser Interesse sein." (pli, 29. Juli 2008, derStandard.at)