Wien/Prag - Wer sich auch nur ein bisschen mit der Geschichte des österreichischen Fußballs beschäftigt, wird bald auf einen Begriff stoßen, der so zentral ist, dass ohne ihn die heimische Ballesterei so aussieht, wie sie das heute leider tut: "mala ulica".

"Mala ulica" heißt auf Deutsch "kleine Gasse". Auf Ballesterisch beschreibt das allerdings die finale Aktion jener Spielinterpretation, die während der EURO von bass erstaunten TV-Kommentatoren als "tiki taki" bezeichnet wurde. Gerade von österreichischen Reportern hätte man sich gewünscht, in diesem "tiki taki" das zu sehen, was es ist: jene uralte Fußballkunst, die in Wien den Namen "Scheiberlspiel" trug, dessen Endzweck eben jene "mala ulica" war, die durch den flachen Kurzpasswirbel in die gegnerische Verteidigung geschlagen werden sollte.

Die "mala ulica" stammt aus Prag, wo das schottische Kurzpassspiel zuerst implementiert wurde. Wie es nach Wien kam, beschrieb später Josef Schediwy, der mit seiner Rapid 1907 gegen die Slavia 2:5 verlor und dabei erkannte, "dass man jene Mannschaften, die beim Kick and Rush blieben, immer wieder leerlaufen lassen konnte, gegen die flache Kombination mussten sie nacheinander unter die Räder kommen".

Die Beziehung zwischen Wien und Prag war immer eine besonders enge, wenn auch selten eine innige. Ein Gutteil der Wiener Kicker hatte ja Tschechisch als Muttersprache, und das galt vice versa auch. Immerhin war in Prag auch der DFC, der Deutsche Fußball-Club, beheimatet, der interessanterweise Gründungmitglied des DFB war. Als "jüdischer Verein" wurde der DFC nach dem Einmarsch der Deutschen verboten.

Zahlreiche DFC-Spieler verstärkten bis 1918 das österreichische Team. Ein Umstand übrigens, der die junge Fifa beinahe zerrissen hätte, weil sie über Jahre hinweg keine Antwort auf die "böhmische Frage" nach einem eigenständigen Verband beantworten konnte. Erst der Fifa-Kongress 1908 in Wien entschied im Sinne der Wiener, bezeichnenderweise von zwei Böhmen, Hugo Meisl und Ignaz Abeles, vertreten.

Aber erst der Krieg machte die Sache endgültig klar. Die enge Beziehung zwischen den beiden Städten zueinander und zu Budapest freilich blieb und führte schließlich 1927 zum Mitropacup. Dessen erstes Finale bestritten Rapid und Sparta. Sparta gewann dabei unter allerlei Ausschreitungen der Wiener Zuschauer, was Friedrich Torberg dazu ermuntert hat, anzumerken, dass, was ein richtiges Mitropacupspiel sein will, auf der Botschaft zu Ende gespielt werden müsse.

Den Kickern war's recht. Hohe Emotionen brachten volle Kassen. Untereinander verstand man sich ja. Und weiterhin zu einem guten Teil auf Tschechisch, der Muttersprache etwa eines Matthias Sindelar. Ein Bub aus seiner unmittelbaren Favoritner Nachbarschaft war sein logischer Nachfolger. Aber Josef Bican übertrieb seine Starattitüden ein wenig, flog bei Rapid und der Admira und kam erst bei der Slavia in Prag zur Ruhe.

Pepi Bican, der 2001, 88-jährig, in Prag starb, ist ein ganz gutes Sinnbild. 19-mal spielte er fürs österreichische, 17-mal fürs tschechoslowakische Team. Bican beendete seine aktive Karriere 1956 bei der Slavia, die damals den Namen Dynamo trug.

Zu dieser Zeit hat sich der österreichische Fußball angesichts des deutschen Weltmeistertitels 1954 längst schon dazu entschlossen, auf Selbstgenügsamkeit und die deutsche Tugend der Athletik zu setzen. Die Erinnerung an die "mala ulica" fing an, allmählich zu verblassen. Bis man sie schließlich ganz vergaß. Eine der Aufgaben des Karel Brückner wird sein, der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. (Wolfgang Weisgram - DER STANDARD PRINTAUSGABE 28.7. 2008)