Man ist in einschlägigen Debatten übereingekommen, den alten Gegensatz von "Stadt" und "Land" für aufgehoben zu erklären. Aussagen über den Zustand unserer Kultur trifft daher derjenige Kritiker, der sich - wie der Münchner Autor Andreas Neumeister - an die Beschreibung möglichst großer, "unübersichtlicher" Städte wagt.

Städte "wuchern" . Sie sind aufgrund ungeschriebener Gesetze offenbar zur Expansion verdammt. Weil sie zwar "explodieren" können, ihrer Idee nach aber kaum jemals an Grenzen stoßen, sind sie integrativ wie keine andere Einrichtung. Nicht die Mauer rund um Herd und Bett, sondern der symbolische "Text" ihrer baulichen Einschreibungen macht Städte zu bevorzugten Erklärungsgegenständen derjenigen, die von ihren verschwenderisch reichhaltigen infrastrukturellen Angeboten einen selbstredend "nomadischen" Gebrauch machen. Will heißen: Man wohnt noch nicht, lebt aber schon.

Von solchen Indifferenzleistungen zehrt nun auch Neumeisters äußerst vergnügliches Buch, dessen Erkenntnisinteresse von einer alten Analogie fundiert wird. Vorausgesetzt, man betrachtet Stadtstrukturen als "Texte" , die der temporäre Städtebewohner lesend - das heißt: begreifend - aufschlüsselt, so kann man natürlich auch Texte mit einiger Fantasie so behandeln, als wären es ihrerseits Städte (oder doch wenigstens stadtähnliche Gebilde).

Zumeist entzünden sich an dieser Operation, die so prominente Ahnherren wie Walter Benjamin oder Rolf Dieter Brinkmann kennt, diffus kritische Absichten: Städte, und seien es auch wahre Schmuckperlen, müssen den Vergleich mit Babel oder Babylon aushalten. Städte sind allein schon ihrer Unübersichtlichkeit wegen tendenziell suspekt. Sie kennen scheinbar nur das Prinzip der Anhäufung, sie sind ungesund und erstickend.

Neumeister kontert den Sachverhalt, indem er einige ehrwürdige Bauverfahren der Avantgarde recycelt: Er legt textliche Listen und Schnüre an; er blickt, die Heimatstadt München im Rücken ("Mjunik" ), auf einen Entwicklungsstrom, der geradewegs vom "Urknall über den Urschrei zur Urhütte" geführt habe.

Der Hang zur Auslassung

Schwer zu sagen, ob man an Neumeisters angeblichem "Roman" den Hang zur Auslassung beklagen soll. Über Städte wie Rom, New York, Tallinn, Moskau oder Mexiko-Stadt kann man alles Mögliche wissen, ohne darum auch schon vollständig über die jeweiligen Ballungsräume in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Keine Fiktion, nirgends; Neumeister verweigert das gelackte Erzählen.

Seine Auslassungen erinnern gelegentlich an die popliterarischen Hochleistungen eines Rainald Goetz. Städte sind Umschlagphänomene; wer sie gestern beschrieben hat (ob aus der Vogelperspektive oder als metropolitaner Erdenwurm), wird sie heute schon nicht mehr wiedererkennen. Man kann Könnte Köln sein blind aufschlagen - das Buch aber genauso gut auch in die nächste Ecke pfeffern. Man wird sich nie unter Niveau unterhalten, sondern manche Textstellen geradezu auswendig hersagen wollen: "Potemkin'sche Hunde in Pawlow'schen Dörfern" .

Manchmal verliebt man sich in Städte, ohne zu wissen, warum. Und manchmal liebt man Texte - ihrer Leichtigkeit wegen. (Ronald Pohl, ALBUM/DER STANDARD, 25./26.07.2008)