An einem Tisch und doch über die halbe Welt verstreut: Standard-Redakteur Helmut Spudich (Zweiter v. re.) interviewte mit Kollegen aus Irland und Finnland Cisco-Chef John Chambers via Video- konferenz.

Foto: Andy Urban / DER STANDARD

Interviews mit CEOs führender IT-Unternehmen sind üblicherweise ein aufwändiges Unterfangen. Monatelang ausgebuchte Terminkalender und interkontinentale Distanzen, deren Überwindung viel Zeit und viele tausende Euro kostet. Aber in diesem Punkt unterschied sich das Gespräch mit Cisco-Chef John Chambers, einem der Visionäre der Internetentwicklung: Für den exklusiven Round-table mit dem Standard (Wien), der Irish Times (Karlin Lillington, Dublin) und Kaupalethi (Pekka Tolonen, Helsinki) musste keiner der Beteiligten eine weitere Strecke zurücklegen als ein paar Kilometer ins örtliche Cisco-Büro: Im "Holodeck" - den nach der Star-Trek-Serie benannten Telepresence-Videokonferenzräumen von Cisco - trafen wir Chambers im kalifornischen San José in Lebensgröße und per High-Definition-Video. Auszüge des einstündigen Gesprächs:

Standard: Sie verkaufen Technologie für die Internet-Infrastruktur. Hat die als Web 2.0 bezeichnete Entwicklung Cisco selbst verändert?

Chambers: Generell können wir beobachten, wie die IT-Industrie wieder abhebt. Man kann das die zweite Phase des Internets nennen oder die Zusammenarbeit - Kollaboration - rund um Web 2.0, oder die Evolution neuer geschäftlicher und sozialer Modelle, oder visuelles Networking - jedenfalls finden mehrere dieser Veränderungen (Transitions, Anm.) gleichzeitig statt. Diese Änderungen werden unsere Branche in den nächsten sieben bis zehn Jahren vorantreiben.

Für jemanden wie mich, der an das Modell "Command and Control" gewöhnt ist, ist das eine schwierige Phase. Ich bin gewohnt, dass sich ein Team von 65.000 Mitarbeitern nach rechts dreht, wenn ich sage: nach rechts drehen. Das funktioniert, wenn man ein Unternehmen mit einem oder zwei Produkten ist. Aber bei unserer Bandbreite an Produkten und der Wechselwirkung zwischen technischen und sozialen Entwicklungen ist das nicht optimal.

Wir haben uns darum zu einem Unternehmen entwickelt, das von Councils und Boards geleitet wird, in der jedes Mitglied für alle Funktionen sprechen können muss, die dieses Council oder Board repräsentiert, wie Engineering, Finanzen, Service etc. Um diesen Prozess zu lernen, haben wir etwa sechs Jahre gebraucht, erst mit Web-2.0-Tools konnte sich das wirklich durchsetzten. Noch vor einem Jahr haben wir jährlich nur ein oder zwei große Querschnittsprojekte abgewickelt, heuer sind es zwei Dutzend solcher Projekte. Und auch wenn es mich schmerzt, das zuzugeben: Die Teams treffen bessere Entscheidungen als die Top fünf oder sechs Leute des Unternehmens, weil sie ihr Ohr am Boden haben.

Standard: Können Sie uns ein Beispiel für den Einsatz einer Web-2.0-Anwendung bei Cisco nennen?

Chambers: Wir haben für unser Engineering ein Wiki eingerichtet, wo Mitarbeiter und später auch Kunden Vorschläge für neue Produkte oder Verbesserungen machen können. Dahinter steht wiederum ein Begutachtungsprozess, der diese Ideen aussortiert und dafür selbst Web-2.0-Techniken verwendet. Das Resultat: Unsere Pipeline für neue Produkte ist schneller, als ich sie finanzieren kann.

Wie man anhand unserer Unterhaltung sehen kann, ist Telepresence sogar wirkungsvoller als reale Treffen, wenn man die Technik erst einmal gelernt hat. Ich kann unter meinem Bild Materialien präsentieren, um zu zeigen, worüber ich rede. Ich habe Augenkontakt mit Ihnen, sehe Ihre Körpersprache. Wir haben Sitzungen mit Vorständen von Unternehmen um den halben Globus, die ich noch nie getroffen habe. Und wir bringen unterschiedliche Kunden in solchen Sessions zusammen, um aus ihrem Feedback und Wünschen zu lernen.

Durch Telepresence haben wir im Vorjahr 170 Mio. Dollar bei Reisen eingespart, heuer sollen es 150 Millionen sein. Mein persönliches Ziel: meine Reisen in den nächsten zwölf bis 18 Monaten zu halbieren und trotzdem doppelt so viele Menschen zu treffen.

Standard: Ist das Interesse an Telepresence durch steigende Ölpreise und Flugkosten gewachsen?

Chambers: Ja, aber der Trick ist, wie verwandle ich dieses Interesse in mehr Käufe? Es ist unausweichlich, dass Leute über ihre Reisegewohnheiten nachdenken und dabei bemerken: Diese Art der Technologie kann uns nicht nur produktiver machen, sondern auch kostengünstiger sein.

Standard: Welche Rolle können Videosysteme wie Telepresence im Bildungsbereich spielen?

Chambers: Unterricht passiert in erster Linie durch den Vortrag von Lehrern und das Auswendiglernen von Inhalten. Jetzt kommen wir drauf, dass gemeinsames Lernen durch Zusammenarbeit wesentlich effektiver ist als Auswendiglernen. Die Aufmerksamkeitsspanne ist länger, und man lernt als Team zu denken. Von Universitäten bis zu Grundschulen, sie alle beginnen Kollaboration zum Lernen einzusetzen, und Video ist ein Teil davon.

Oft sind es Katastrophen, die die Verantwortlichen dazu zwingen, eingefahrene Wege zu verlassen. Ich konnte vor einigen Wochen zusammen mit fünf anderen CEOs Sezuan besuchen, das Epizentrum des furchtbaren chinesischen Erdbebens. Die chinesischen Behörden suchen nach Möglichkeiten eines zukunftsorientierten Wiederaufbaus. Wir haben Hilfe dabei zugesagt, ein Gesundheits- und Bildungssystem aufzubauen, das mit Telepresence und Videonetzwerken Zugang zu neuen Möglichkeiten auch in diesen ländlichen Regionen erlaubt, damit junge Leute zur Ausbildung nicht weggehen müssen.

Web-2.0-Technologien können tatsächlich dazu beitragen, Entfernung und Zeit zu überwinden, und sobald man das visuelle Element hinzufügt, wird es noch viel praktischer - ob es jetzt darum geht Schüler zu unterrichten oder im Team zusammenzuarbeiten, oder um die Unterstützung der besten Mediziner der Welt in einem Krisenfall erhalten zu können.

Standard:Bringen Video und Web 2.0 eine substanzielle Änderung des Lernens, oder ist es nur ein weiteres Medium, das uns damit zur Verfügung steht?

Chambers: Wir haben vorhin vom Gesundheits- und vom Bildungsbereich gesprochen, darum möchte ich diesen Vergleich ziehen: Käme ein Arzt, der vor 100 Jahren tätig war, heute in ein Spital und würde Patienten behandeln wollen, wäre er wenig effektiv, weil sich die Behandlungstechnik hundertfach geändert hat, von der Computertomografie bis zum Ultraschall. Wenn man hingegen einen Lehrer oder eine Lehrerin von vor hundert Jahren in eine heutige Klasse versetzen würde, dann wären sie weiterhin sehr gut.

Es gibt einen Bereich, der für rapide Änderungen durch die Anwendung von Technologie reif ist, und das ist der Bildungssektor. Der Lernprozess hat sich nicht wirklich geändert, er ist zu stark vom einzelnen Lehrer in der Klasse abhängig ­­- ähnlich wie das überholte "Command and Control"-System in Unternehmen. Ich glaube, dass wir im Bildungsbereich sowohl bei Schülern als auch unserer eigenen Generation noch sehr viel Kreativität sehen werden.

Standard: Wird der vermehrte Einsatz von Technologie die digitale Kluft verstärken?

Chambers: Moore's Law ist intakt, das heißt, dass sich die Leistung steigert und der Preis fällt. Die Preise für viele Dinge sinken, seien es die Kosten der Übertragungsbandbreite oder von Endgeräten. Drahtlos-Techniken wie WiFi oder WiMax bringen neue Möglichkeiten, auch den ländlichen Raum billig zu versorgen. Die digitale Kluft verringert sich dramatisch: Egal ob man nach Indien oder China, oder die USA oder Deutschland blickt, immer mehr Leute haben unabhängig von ihrem Einkommen Zugang zu Technologie rund ums Internet. Unser Ziel ist klar: Drei Milliarden Menschen, die weniger als drei Dollar am Tag verdienen. (Helmut Spudich / DER STANDARD Printausgabe, 25.07.2008)