Foto: Reuters

Wolfgang Petritsch: "Es zeigt sich wieder einmal, dass die EU-Perspektive auf dem Balkan einfach immer noch die größte Attraktion hat, im Unterschied zu unserem Land."

Foto: EPA

Unangenehme Wahrheiten: Genozid an 8000 Muslimen in Srebrenica.

Der frühere Hohe Repräsentant für Bosnien, Wolfgang Petritsch, hält die Verhaftung für das zweitwichtigste Ereignis nach der Revolution 2000 in Serbien, sagte er zu Adelheid Wölfl.

***

STANDARD: War die Verhaftung von Karadzic erst durch den Regierungswechsel in Belgrad möglich?

Petritsch: Es hat grundsätzlich etwas damit zu tun. Vor allem weil es jetzt eine Koalition der Extreme gibt. Dass die einstigen Kontrahenten (die Demokraten und die Milosevic-Sozialisten, Anm.) zusammenarbeiten, hat dieses Problem Karadzic gelöst. Die Koalition ist eben nur eine scheinbare Paradoxie, denn in solchen Situationen benötigt man die Unterstützung der direkt Betroffenen.

STANDARD: Ohne Regierungsbeteiligung der Sozialisten (SPS) wäre es gar nicht zu einer Verhaftung gekommen?

Petritsch: Das war politisch sicher gut kalkuliert und ist auch der Lackmustest für die SPS. Wenn sie tatsächlich eine Rückkehr in den europäischen Mainstream möchte, ist das eine erste Konzession, ein erster Schritt.

STANDARD: Zeigt die Verhaftung, dass die Leute um Tadic einen besseren Zugriff auf die Geheimdienste haben?

Petritsch: Das hängt auch mit dem Eintritt der SPS in die Koalition zusammen. Man weiß in den Geheimdiensten: Wenn die drinsitzen, dann kann das nicht so falsch sein, wenn wir das jetzt machen müssen.

STANDARD: Wird in Bosnien nun die Existenz Republika Srpska infrage gestellt, die Karadzic ja mitbegründet hat?

Petritsch: Vor allem ist die Verhaftung ganz wichtig für die Opfer und die Überlebenden. Das ist eine historische Zäsur in der bosnischen Geschichte. Wenn der Gründer der Republika Srpska in Den Haag vor Gericht gestellt wird, wird sich das politische intellektuelle Establishment dort klarerweise stärker mit der Frage auseinandersetzen müssen: Was sind denn eigentlich unsere Grundlagen, und was ist unsere Identität?

STANDARD: Kann das Haager Tribunal nun doch die Balkankriege aufarbeiten?

Petritsch: Ich bin da skeptischer geworden. Rechtsverfahren sind sehr, sehr wichtig. Aber das Verständnis für das, was passiert ist, auch das Annehmen von unangenehmen Wahrheiten, ist ein breiterer Prozess. Das läuft in Serbien sicher noch nicht. Genauso ist es auch mit Bosnien. Aber die Festnahme Karadzic ist ein wirklich wichtiges Ereignis. Das wird nach der Oktoberrevolution in Belgrad das zweite wesentliche Ereignis im Raum des früheren Jugoslawien sein.

STANDARD: Kann Mladic jetzt auch verhaftet werden?

Petritsch: Ich würde nicht unbedingt davon ausgehen. Es wird notwendig sein, dass Brüssel konsequent auf die Auslieferung besteht. Es muss klar bleiben, dass das eine Conditio sine qua non für den Weg in die EU ist.

STANDARD: War es ein Erfolg von Tadic?

Petritsch: Es zeigt sich wieder einmal, dass die EU-Perspektive auf dem Balkan einfach immer noch die größte Attraktion hat, im Unterschied zu unserem Land. Europa ist eben keine Phase für die Menschen dort, das ist für sie auch das Lebensziel. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.7.2008)