Zur Person Alina Mungiu-Pippidi (44) leitet die Rumänische Akademische Gesellschaft, lehrt an der Universität Bukarest und ist nach Gastaufenthalten in Harvard, Princeton und Oxford Professorin an der Hertie School of Governance in Berlin.

Am Mittwoch erscheint ein kritischer EU-Fortschrittsbericht zu Rumänien. Gelder würden nach politischen Kriterien vergeben, sagt auch die Politologin Alina Mungiu-Pippidi zu Laura Balomiri.

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STANDARD: Die rumänische Sprache verfügt über zahllose Synonyme für den Begriff "Bestechung" , von "Schmiergeld" bis zur "kleinen Aufmerksamkeit". Ist Kleinkorruption eine Nationalkrankheit geworden?

Mungiu-Pippidi: Sie ist es nicht geworden, sondern sie war es! Die Korruption entwickelte sich als Mittel, um einen dysfunktionalen Staat, der absurde Forderungen an die Menschen stellte, zum Funktionieren zu bringen – erst unter osmanischer Herrschaft, dann im Kommunismus. Man konnte nur so überleben, sie war ein Mittel der Humanisierung eines für den Steuerzahler willkürlichen und brutalen Systems. Was wir heute haben, ist ein bloßes Überbleibsel. Die Kleinkorruption nimmt in Umfragen konstant ab, Schmiergeldzahlungen in der Verwaltung sind auf unter zehn Prozent gesunken. Die Kleinkorruption "am Schalter" ist dank der Reformen, die die Transparenz erhöhten, und dank der Gehaltserhöhungen im Verwaltungsapparat fast verschwunden. Das Problem ist die große Korruption, dass alle Gelder für öffentliche Investitionen oder die europäischen Subventionen nach politischen Kriterien vergeben werden.

STANDARD: Warum geben Rumänen an, über die Korruption entrüstet zu sein, während sie diese durch ihr Verhalten unterstützen?

Mungiu-Pippidi: Die Rumänen sind vom korrupten System entrüstet, nicht von dem, was man den Ärzten zusätzlich gibt. Die fehlgeschlagene Gesundheitsreform beschert ihnen ja nach wie vor Gehälter, die weit unter dem eines Taxifahrers, bei 200 bis 300 Euro, liegen. Eigentlich rechnet der Staat damit, dass wir den Ärzten ein zusätzliches Kuvert hinterlassen – das ist die empörende Heuchelei. Was die Leute eher ärgert, ist die "Kultur der Privilegien" , die das Funktionieren der Marktwirtschaft mit gleichen Chancen für alle verhindert.

STANDARD: Bestechung wird aber auch von multinationalen Konzernen, die nach Rumänien kommen, praktiziert. Warum gelangen solche Fälle nicht vor Gericht?

Mungiu-Pippidi: Sie kommen vor Gericht, das Problem ist nur, dass sie auch dort bleiben. Die Angeklagten haben diverse Allianzen mit der Politik geschlossen, oft werden Gesetze abgeändert und rückwirkend angewendet, um ein "ungünstig" verlaufendes Gerichtsverfahren zu "korrigieren" . Der Verfassungsgerichtshof wird immer wieder in Korruptionsfällen als Schiedsrichter angerufen. Es handelt sich also um einen Verzögerungskrieg zwischen den Antikorruptionsbehörden, die von der Zivilgesellschaft unterstützt werden, und den Verbrechern, die von ihren Verbündeten in der Politik unterstützt werden.

STANDARD: Warum funktioniert die "Nationalagentur für Integrität" (ANI) nicht richtig, die ja die Einkommens- und Besitzverhältnisse der Politiker kontrollieren sollte?

Mungiu-Pippidi: Wie könnte sie funktionieren!? Premier Tariceanu hat in diesem Jahr bereits zweimal den von Justiz- und Finanzministern unterzeichneten Regierungserlass abgewiesen, durch den die ANI die Software bekommen sollte, die sie für die Überprüfung der Besitz- und Einkommenserklärungen der öffentlich Bediensteten benötigt. Man kann sie ja nicht per Hand überprüfen, es sind über 100.000 Erklärungen. Das Funktionieren der ANI wird absichtlich, wissentlich verhindert.

STANDARD: Auch viele Korruptionsverfahren gegen Ex-Regierungschef Adrian Nastase wurden aufgrund von "Verfahrensfehlern" eingestellt.

Mungiu-Pippidi: Es gibt noch laufende Verfahren gegen Adrian Nastase wie auch gegen die Oligarchen und Medienmogule, die ihn reinwaschen. Leider befindet sich ein Großteil der Medien in den Händen einer Lokalmafia. Es fanden sich keine westlichen Konzerne, die sie aufgekauft hätten, während die Mafiosi ihre strategische Bedeutung erkannten und sie kauften.

STANDARD: Nach der Änderung des Lustrationsgesetzes wurde auch die Behörde zur Untersuchung der kommunistischen Geheimdienstarchive eine "Form ohne Inhalt" .

Mungiu-Pippidi: Das ist nicht überraschend. Die rumänische Übergangsphase wurde – wie auch der EU-Beitritt – unter der Führung der Ex-Kommunisten durchgeführt. Sie sind nie abgesetzt worden, wie in Ostdeutschland oder Zentraleuropa, sie "konvertierten" bloß zur EU. Also kann man nicht erwarten, dass sie uns erlauben, sie vor Gericht zu bringen. Rumänien trat der EU mit einer unabgeschlossenen Revolution bei. Die alte Elite ist immer noch mächtiger als die neue.

STANDARD: Justizministerin Monica Macovei wurde gleich nach dem Beitritt wieder abgesetzt.

Mungiu-Pippidi: Es war von vornherein beschlossen, dass sie beseitigt wird. Sie haben ihre Glaubwürdigkeit in Brüssel zynisch ausgenutzt. ZUR PERSON:Alina Mungiu-Pippidi (44) leitet die Rumänische Akademische Gesellschaft, lehrt an der Universität Bukarest und ist nach Gastaufenthalten in Harvard, Princeton und Oxford Professorin an der Hertie School of Governance in Berlin.