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Alter hat in unserer Gesellschaft zu wenig Wert, sagen Silvia Tuider und Elisabeth Hintermayer, und das, obwohl alle jeden Tag älter werden.

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Silvia Tuider (li.) ist systemische Familienberaterin und Leiterin der Geschäftsstelle Pro Senectute in Wien, einer Beratungseinrichtung, die sich vorwiegend für die Fortbildung von Personal in der Altenpflege einsetzt. Als Projektleiterin des Seminars "Einen Tag 80 sein", versucht Pro Senectute gesunden Menschen Einsicht in die Probleme von Kranken zu vermitteln.

Christine Hintermayer ist diplomierte Sozialarbeiterin und Leiterin des Bereichs "Betreuung zu Hause" bei der Caritas Socialis, einer Institu- tion in Wien, die professionelle Pflege und Betreuung älterer und chronisch kranker Menschen organisiert. Vor dieser Tätigkeit war Hintermayer als Sozialarbeiterin in der Kinder- und Jugendarbeit tätig.

 

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Was brauchen alte Menschen? Eine Diskussion über Klischees, Mystik und Missverständnisse.
Regina Philipp bat die Expertinnen Silvia Tuider vom Verein Pro Senectute und Christine Hintermayer von Caritas Socialis um Ein- und Aussicht.

STANDARD: Was sind die schönen Seiten am Altsein?

Hintermayer: Das ist eine seltene Frage im Zusammenhang mit dem Altwerden. Ich glaube, dass es die Zeit ist, in der man nichts mehr hinterherjagen muss. Die Kinder sind erwachsen, das Haus gebaut. Vorausgesetzt, man ist finanziell abgesichert, hat man im Alter Zeit, sein eigenes Leben zu leben.

Tuider: Ich glaube, das ist immer auch eine sehr persönliche Frage. Ich stelle mir vor, dass die schönen Seiten des Alters das "Nichts-mehr-erreichen-Müssen" ist. Viele fürchten sich aber genau vor diesem Zustand.

STANDARD: Womit kämpfen alte Menschen?

Hintermayer: Sie kämpfen vor allem mit der Angst, anderen zur Last zu werden. Dazu kommt die Angst vor dem Sterben. Der größte Wunsch der meisten alten Menschen ist, einfach einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Und viele kämpfen mit den Defiziten, die Alter mit sich bringen kann.

STANDARD: Der Verein Pro Senectute versucht Menschen das Alter näherzubringen. Was machen Sie?

Tuider: In unserem Seminar "Einen Tag 80 sein" laden wir Menschen ein, einen Perspektivenwechsel und Rollentausch zu vollziehen. Mithilfe von Schienen, Bandagen und Brillen werden Erkrankungen wie Schlaganfall, Morbus Parkinson und Rheuma simuliert. Die Teilnehmer erleben im Rollenspiel nicht nur die Bewegungseinschränkung und Hilfsbedürftigkeit, sondern auch die Macht und Ohnmacht der Situation. Vor allem für Menschen, die professionell in der Pflege arbeiten, bringt das Einsichten.

Hintermayer: Wir beschäftigen uns bei der Caritas Socialis sehr stark mit Mäeutik, also der Frage, was kranke oder auch demente Menschen wollen und brauchen. Wichtig dabei ist, dass der alte Mensch als Persönlichkeit mit großer Lebenserfahrung wahrgenommen und respektiert wird - auch dann, wenn er Defizite hat. Es ist immer eine Frage von Nähe und Distanz, die gerade auch in der Pflege eine große Rolle spielt.

STANDARD: Wie bewahren sich Pflegepersonen ihre Sensibilität?

Hintermayer: Das hängt von der eigenen Haltung, aber auch Ausbildung ab. Im Alltag ist die Umsetzung der Mäeutik eine Herausforderung. Denn natürlich setzt jede Art der Pflegehandlung Körperkontakt voraus. Entscheidend ist, dass dieser niemals stillschweigend vollzogen wird, sondern nur mit dem Einverständnis des alten Menschen passiert.

Tuider: Genau das ist auch das Ziel unseres Seminars. Das eigene Handeln reflektieren und die Sensibilität, die in der Alltagsroutine geschwächt wird, zu schärfen, um den höchst unterschiedlichen Bedürfnissen alter Menschen gerecht zu werden.

STANDARD: Wer kann diese Seminare besuchen?

Tuider: Es ist für jeden hilfreich, sich mit dem Altern und mit dem Umgang alter Menschen auseinanderzusetzen. Auch professionelle Pflegekräfte sind Töchter und Schwiegertöchter, die vielleicht pflegen oder im gemeinsamen Haushalt mit Eltern bzw. Schwiegereltern leben. Fragen, die dabei entstehen, sind: Wie gestalte ich eine gute Beziehung zu meinen alten Eltern? Jeder kennt das Klischee, dass nur böse Kinder ihre Eltern ins Heim stecken. Wir wissen, dass Beziehungen nicht vom Himmel fallen, sondern über viele Jahre wachsen. Es kann schwierig sein, die eigene Mutter zu pflegen, wenn da viele unverarbeitete Probleme dazwischenstehen.

STANDARD: Was wünschen sich alte Menschen?

Hintermayer: Vor allem wünschen sie sich wenig bis gar keine Veränderungen. Die meisten haben sich in genauen Tagesroutinen eine Struktur geschaffen, die ihnen Halt und Sicherheit gibt. Dadurch erhalten sie nicht zuletzt auch ihre Aktivität. Das ist wichtig und sollte respektiert werden. Alte Menschen haben nicht unbegrenzt Zeit, auch wenn es scheinbar so wirkt, weil sie keine Verpflichtungen mehr haben. Routinen sind das Rückgrat vieler alter Menschen.

Tuider: Wertschätzung ist keine Frage des Alters. Jeder Mensch möchte in seinem Sein wahrgenommen werden. Warum soll das im Alter anders sein? Ich glaube, dass die meisten alten Menschen wissen, was sie wollen und was ihnen guttut. Das Traurige ist, dass die Botschaften, die uns alte Menschen geben, oft nicht ernst genommen werden. Ein alter Mensch, der sagt, dass er nicht mehr leben will, möchte nicht abgelenkt werden mit: "Schauen Sie doch aus dem Fenster, wie schön die Sonne scheint". Es kann das Bedürfnis nach einem Gespräch über das Sterben sein oder einfach nur der Wunsch, dass mir ein Mensch zuhört, sich zu mir setzt und meine Gedanken ernst nimmt.

Hintermayer: Denn jeder von uns sendet doch verklausulierte Botschaften und hofft, dass dann gefragt wird, was eigentlich los ist. Trotzdem scheint das Umgehen damit im Alter schwieriger zu sein. Die Mäeutik hakt genau hier ein. Zuhören und erfahren, wer der andere eigentlich ist.

Tuider: Wenn alte Menschen Hilfe brauchen, dann besteht die Gefahr, dass Angehörige oder Pflegende meinen, sie wissen, was gut ist. Routine spielt da auch eine Rolle.

STANDARD: Lässt sich das verbessern?

Hintermayer: Es ist eine Frage der Kommunikation, die natürlich problematischer wird, wenn der Mensch hilfsbedürftig ist. Auch in der Pflegeausbildung wird diese Fähigkeit vernachlässigt. Da geht es um Pflegetechnik und wenig um seelische Befindlichkeiten.

STANDARD: Ab wann ist ein Mensch alt?

Hintermayer: Mit dem Verlust der Selbstständigkeit, wahrscheinlich.

Tuider: Wir bereiten uns ein ganzes Leben auf das Alter vor. Schwierig ist, wenn andere bestimmen, wann du alt bist. Das Alter selbst macht nicht alt, sondern die Ängste der der anderen lassen einen alt werden. Es ist natürlich, dass man mit den Jahren bedürftiger wird. Wenn ich meiner Mutter bereits ein Nachziehwagerl kaufe, obwohl sie dieses weder braucht noch will, dann ist das eine Bevormundung.

STANDARD: Wie geht das in der Pflege von Menschen mit Demenz?

Hintermayer: Wir haben mit der Mäeutik ein Modell für den würdevollen Umgang mit Demenzkranken entwickelt. Entscheidend ist das Bemühen, jemanden kennenzulernen. Sein verbales Ausdrucksvermögen ist da gar nicht so entscheidend. Wenn man die Biographie kennt, lässt sich das Handeln auch verstehen. Wir führen viele Gespräche mit Angehörigen, um aus der Biografie eines Menschen ein Bild zu entwickeln, das dieses Verständnis möglich macht.

STANDARD: Wie erleichtert eine Biografie den Umgang?

Hintermayer: Die Kunst ist es, für den Einzelnen herauszufinden, wie sich sein Leben bestmöglich gestalten lässt. Bei Dementen ist es besonders wichtig, sie weder zu über- noch zu unterfordern. Wenn jemand ständig mit Gedächtnistraining gequält wird, darf man sich nicht wundern, wenn er ununterbrochen auf und ab läuft. Es kann durchaus sein, dass es für einen dementen Menschen ausreicht, seine Zeit mit Wäschestapeln zu verbringen.

STANDARD: Merken Sie, wenn demente Menschen zufrieden sind?

Hintermayer: Ja, am Gesichtsausdruck. Dort zeichnet sich Gelassenheit, Entspannung und auch Ruhe deutlich ab.

STANDARD: Wie sieht die Realität in Österreich aus?

Hintermayer: Ich wünsche mir mehr individuelle Betreuungsangebote in Wohngemeinschaften, Tageszentren, in Heimen und in der Betreuung alter Menschen zu Hause.

Tuider: Es wäre schön, wenn wir uns als Gesellschaft mit dem Altwerden auseinandersetzen. Es sollte Schluss mit Klischees gemacht werden, und die Mystik über alte Menschen soll einer Auseinandersetzung weichen, die dem Einzelnen und seinen Bedürfnissen gerecht wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.7.2008)