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Dort, wo der Balkan ein Gebirge ist, lauern am Wegesrand noch bunte Geschichten.

Foto: Bulgaria Travel

Das Eisengerippe schnaufte und ächzte. Und es stank auch ein wenig: nach heißem Öl und schlecht verdautem Benzin. Um ein Auto, eine Art Bus oder einen ausrangierten Eisenbahnwaggon handelte es sich dabei nicht. So viel stand auf den ersten Blick fest. Vielleicht aber war der stotternde Rostsaurier einst ja ein echter Traktor gewesen. Das heißt, lange bevor das skurrile Gefährt, wie bei einer ungünstig verlaufenden Partie Strippoker, wenige Kilometer östlich von Sofia die ganze Karosserie abgelegt hatte: Kotflügel, Seitenbleche, alles bis auf die Gummireifen und das vibrierende, bloße Ölgerippe, das nun mit viel Rost und Dreck zusammengehalten wurde.

Der Mann, der draufsaß, passte irgendwie zu dem alteisernen Wundertier. Auch er hatte ja etwas Metallisches an sich: blinkende Goldzähne, einen Händedruck wie eine Rohrzange. Aber auch einen weichen, geflochtenen Zopf hatte der Bauer, den er jetzt zu einem Knoten gedreht im Nacken trug.

Der Dachziegel neben ihm, der wohl schon seit einiger Zeit über dem offenem Feuer lag, und der einen perfekten Grill für die kleinen Fleischstückchen abgab, passte bestens dazu. Schnaps gab es natürlich auch, selbstgebrannten Rakija aus dem eigenen Pflaumenbestand. Und natürlich wilden Thymian, den man noch nicht einmal in die kleinen Fettseen der Dachziegelmulden legen musste - ohnehin hängt der Geruch ständig in der Luft. Thymian, Salbei, Bergminze, Wacholder und Oregano sind hier schließlich olfaktorisch wertvolles Unkraut, das von der Natur gratis an den Lattenzaun geliefert wird - genauso wie der herrliche Rundblick auf die üppigen Weiden und die Höhenzüge der Stara Planina: Jenes "Alte Gebirge", das hier Zentralbulgarien teilt und das man wahrscheinlich besser unter dem Namen "Balkan" kennt.

Streckenweise Idealfälle

Der Bauer mit dem Zopf war ein klarer Fall von Zufallsbekanntschaft. Allerdings eine, wie man sie entlang der Nebenstrecken auf halbem Wege zwischen Sofia und der Schwarzmeerküste allzu leicht macht. Im Idealfall hat man unterwegs Pfirsiche gekauft und lässt sie jetzt in der Hitze des Wagens noch ein wenig nachreifen. Im noch "idealeren Idealfall" konzentriert man sich auf die vielen Schlaglöcher unterwegs - denn auch die bekannteren Orte dieser Region verbindet ein brüchiges Wegenetz, das den Charakter dieser freilichtmusealen Städtchen schon während der Anreise vorwegnimmt. Koprivstica, Veliko Tarnovo heißen die meistbesuchten davon, während sich um Gabrovo die kompakteste Ansammlung von denkmalgeschützten Dörfern - Bozenci, Trjavna oder Etara - findet.

Es sind Gucklöcher auf den Charme einer sich rasant verändernden bäuerlichen Arbeitsumgebung, vor allem aber auf eine sensible Periode der bulgarischen Geschichte. Denn für die Bewohner des oftmals zerfledderten Landes verbindet sich mit dem Blick auf Steinbrückchen, kopfsteingepflasterte Gassen und aufwändig bemalte Erker weit mehr als folkloristisch verbrämte Romantik. Darauf verweist bereits der spröde Terminus "Architektur der Nationalen Wiedergeburt" ebenso wie zahlreiche Museen, die hier "nationalen Märtyrern" gewidmet sind.

Auch wenn Bulgarien nie eine ausgesprochene Mitte besessen hatte und sich das Land aus parallel verlaufenden Gebirgszügen "aufschichtet" - das Mittelgebirge der Sredna Gora gilt nicht von ungefähr als Herzland des bulgarischen Nationalstaates. Konzentrierte sich hier doch einst der gegen die Osmanen geführte Kampf um nationale Eigenständigkeit. Indizien dafür, dass es sich heute um eine wesentlich gemütlichere Region handelt, gibt es an der südlich des Mittelgebirges verlaufenden Strecke. Störche, die ihre Nester auf den Strommasten errichtet haben, ziehen gemächlich an den Rändern der Autobahn in Richtung Plovdiv vorbei.

Lohnende Rauchpause

Für viele ist die zweitgrößte Stadt Bulgariens bloß ein Stopover auf dem Weg zu den schönen Stränden des Schwarzen Meers, der hier auch durch die grüne Wüste der größten bulgarischen Tabakplantagen führt. An Plovdiv einfach vorbeizurollen wäre trotzdem ein Fehler. Immerhin handelt es sich um die vielleicht schönste Stadt Bulgariens, mit einem römischen Amphitheater, das selbst die Untertunnelung für den Straßenverkehr bestens überstand, und mit imposanten Herrenhäusern in einer zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Altstadt. Weit auskragende Obergeschoße mit großen Dachtraufen, kunstvolle Holzschnitzereien, dekorativ bemalte Wände und lauschige Innenhoflauben mit elegantem Gartenmobiliar: Dass sich zumindest die Granden des 19. Jahrhunderts am besonderen Baustil der hölzernen Händlerpaläste erfreuen konnten, verrät die Visite der Plovdiver Haus-Museen allemal. Doch der Flirt des Bürgertums mit der nationalen Revolte ist für eine Stadt wie Plovdiv zugleich nur eine Episode einer langen urbanen Geschichte.

Als die Römer dem Zentrum des bulgarischen Thrakiens ein Amphitheater bescherten - es zählt zu den besterhaltenen des Balkans und erlitt seine ernsten Schäden erst nach einem Erdrutsch 1972 -, war Plovdiv schon uralt. Mehr als achttausend Jahre Siedlungsgeschichte - die ältesten sichtbaren Spuren der Thraker finden sich auf dem heutigen Altstadthügel Nebet Tepe - das können nur wenige europäische Städte vorweisen. Philipp von Mazedonien - der Vater von Alexander dem Großen - taufte die Stadt 342 v. Chr. auf Philippopolis und machte sie zu einer Drehscheibe der antiken Welt. Dann kamen Goten, Hunnen, Byzantiner, Kreuzritter - das ganze Programm. Geblieben ist ein urbaner Mix, komponiert aus Minaretten und mittelalterlichen Fresken, aus Römermarmor und Jugendstilfassaden der Neustadt - in allen Stadien des Verfalls, aber auch mit der nun einsetzenden Restaurierung zu bewundern.

Ein guter Platz bleibt eben ein guter Platz, und das am oberen Ende der Thrakischen Ebene gelegene Plovdiv blickt jetzt einer neuen Blüte entgegen. Die Galeristen vor dem Balabanov-Haus sind sich da ganz sicher. Die wenigen Fremden, die sich hierher verirren, auch. Plovdivs Antikläden und schattige Altstadtgassen, die Show der Töpfer und erst recht jene des Cymbalspielers - man hat sie im Moment noch fast für sich allein. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgabe/19./20.7.2008)