Mehr Bilder aus dem Donaudelta zeigt diese Ansichtssache.

Foto: Eva Spießberger

Mit einem leichten Schlenker legt unser Boot an der Tankstelle an. Keine gewöhnliche Tankstelle: Ein Hausboot mit einer Zapfsäule. Unter der Wäscheleine mit geblümten Überzügen und Häkelvorhängen öffnet sich knapp über der Wasseroberfläche eine Tür. Der Tankwart weiß, was Pawel braucht: zehn Liter Diesel und drei Dosen Bier. Genug, um zwei Touristen für drei bis vier Stunden mit dem kleinen Motorboot durchs Donaudelta zu fahren. Pawel wohnt in Mila 23. Was nach sowjetischem Forschungsgelände klingt, ist eine lippowanische Deltasiedlung, übersetzt „Meile 23". Der Name leitet sich von der Meilen-Einteilung der Donau ab. Von der Donaumündung werden die Meilen stromaufwärts gezählt. Mila 23 liegt also 23 Meilen von der Mündung der Donau ins Schwarze Meer entfernt.

Zeit spielt im Delta eine untergeordnete Rolle - so scheint es zumindest, wenn man sich auf den Weg von der Hafenstadt Tulcea nach Mila 23 macht. Auf dem großen Linienschiff wird alles transportiert, was auf dem Wasserweg ins Delta muss - Matratzen, Fahrräder, Fernseher... dazwischen Picknick-Stimmung. Die gemächliche Fahrt dauert rund drei Stunden, die Zeit wird mit Bier aus der 2-Liter-Plastik-Flasche und Kartenspielen verkürzt. Nach drei Stunden heißt es umsteigen in ein kleineres Boot nach „Mila 23". Einen Fahrplan gibt es nicht, wann das Schiff genau weiterfährt, wissen auch die Einheimischen nicht.

„Mila 23" ist nicht zu übersehen, am Bootssteg prangt eine Riesen-Handy-Werbung samt Handymasten, dahinter das einzige Lokal im Dorf mit dem Namen „Mila 23". Straßen gibt es nicht in dem 2400 Einwohner zählenden Fischerdorf. Ein kleiner sandiger Weg führt zwischen Deltaarm und schmucken Gärten samt Wohnhäusern entlang. „Pavel und Aurica Marcov haben vier sehr gepflegte Zimmer" steht im Reiseführer. Doch wo wohnen Pavel und Aurica? Ein Fischer am Ufer kennt die beiden, kein Schild verrät, wo sich die „Pension Marcov" befindet. Das Suchen zahlt sich aus, Pavel und Aurica erweisen sich als perfekte Gastgeber, kochen wunderbar, stellen ihren perfekten Blumengarten zum Ausruhen zur Verfügung und erzählen über die Lippowener, zu denen sie selbst gehören.

Über 90 Prozent der Bewohner von „Mila 23" sind Lippowener. Altgläubige Russen, die im 17. Jahrhundert ins Delta gezogen sind. Als Altgläubige wurden sie im Zarenreich verfolgt, da sie eine 1654 eingeleitete Glaubensreform des Patriarchen ablehnten. Zuflucht boten die Labyrinthen des Deltas mit den unzugänglichen Wasserwegen. Genau diese Wasserwege kennt Fischer Pavel wie seine Westentasche. Gern ist er bereit, die Touristen mit seinem Boot tief ins Delta-Gebiet zu fahren.

Nach dem Besuch der Hausboot-Tankstelle geht's vom offenen Wasser auf einen der zahlreichen Kanäle ins dichte Grün des Deltas. Urwaldähnliche Bäume und eine Tierwelt unmittelbar zum Anfassen beleben das Delta. Tausende Vögel, Enten, Schildkröten, Biber, Schlangen, Fische und Frösche machen die Fahrt zu einem unglaublichen Naturerlebnis. Plötzlich öffnet sich der Kanal hin zu einem relativ großen See. Gleich hinter dem Schilf tauchen sie auf - ein Kolonie von Pelikanen. Es müssen an die Hundert dieser großen Wasservögel sein, keine zehn Meter von unserem Boot entfernt. Zuerst noch still, beginnt Sekunden später Bewegung in die Kolonie zu kommen. Ein unglaubliches Schauspiel in schwarz-weiß, welches schließlich in einer geordneten Formation zum Himmel steigt. „Glück gehabt", meint Pavel, selbst sichtlich erfreut darüber, seinen Gästen eine so große Kolonie von Pelikanen zeigen zu können.

Nach der Ankunft am Steg der Marcovs bleibt noch genug Zeit, den Sonnenuntergang zu beobachten. Ungewohnt für Städter in einem Dorf zu sitzen, ohne Straßen, ohne Autos, ohne Motorräder, ohne Zivilisationslärm. Die Fischerboote schaukeln an den Stegen, die Frösche bieten ein Konzert der Superlative und nichts stört die unglaubliche Idylle - so fühlt es sich an, am letzten Zipfel EUropas. (Eva Spießberger)