Leonardo Di Caprio als Amsterdam Vallon in "Gangs of New York"

Foto: Centfox

Regisseur Martin Scorsese am Set mit Star Cameron Diaz und einer DV-Kamera

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Mit seinen New York Stories hat Martin Scorsese Filmgeschichte geschrieben. Mit "Gangs of New York", soeben für zehn Oscars nominiert, hat er nach langen Vorarbeiten ein Kapitel Stadtgeschichte verfilmt - ein Thema, für das der Regisseur eine auch im Interview kaum zu überhörende Leidenschaft entwickelt hat.


Es ist Winter, in der Stadt liegt Schnee. Draußen vor dem Nobelhotel steht eine einsame Sicherheitswache. Und eine Handvoll tapferer Mädchen, die auf ein Autogramm von Leonardo DiCaprio hoffen oder wenigstens gerne einmal aus nächster Nähe einen Blick auf das Idol werfen würden. Drinnen, in überheizten Salons, erhalten derweil die geladenen Medienvertreterinnen und -vertreter ihre Zugangsberechtigungen, Termineinteilungen werden überprüft. Die Atmosphäre ist betont geschäftig. Schließlich wird heute in kleinen Häppchen noch Großes verabreicht werden:

Martin Scorsese und sein Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio sind auf ihrer Promotiontour für Gangs of New York, Scorseses Herzensprojekt über New Yorker Bandenkriege Mitte des 19. Jahrhunderts, in Berlin angelangt. Den Vormittag werden sie bei Mini-TV-Interviews in Serie, den frühen Nachmittag bei einer Pressekonferenz und den Rest des Arbeitstages mit Gruppeninterviews für Printmedien und Radio zubringen. DiCaprio wird später, zwischen routinierten Statements zur hervorragenden Zusammenarbeit, zu seiner Verehrung der Regielegende Scorsese oder seiner - natürlich inexistenten - Traumfrau, erwähnen, dass er das nun schon zwei Monate lang macht, und die unvorbereitetste Reaktion, die von ihm an diesem Tag zu kriegen ist, ist wohl der befreite Luftsprung nach Ende der letzten Interviewrunde.

Scorsese dagegen erweist sich als launiger, rasanter Geschichtenerzähler. Er sei zwar mit Sicherheit kein Historiker, aber ein "history buff", sagt er und unterhält dann die versammelte Runde mit Berichten über die Police Riots von 1855 - als einander die städtischen Ordnungshüter und ihre von der Regierung bestellten "Konkurrenten" bekämpften - oder über die Vorgeschichte des New Yorker Fire Department, das 1865 gegründet wurde. Und das passt gut zu dem Eindruck, den auch der Film, um den es hier geht, hinterlässt: Nämlich, dass die Leidenschaft für die Historie und die Geschichte, in die der Film sie übersetzt, nicht recht zueinander finden wollen und dass der akribische Eifer, mit dem sich der Regisseur offenkundig in die Geschichte seiner Heimatstadt vertiefte, nur schwer mit den Anforderungen der Ökonomie einer linearen Erzählung zusammengeht.

Mit der Bewerbung des europäischen Kinostarts von Gangs of New York geht immerhin ein Projekt in die Zielgerade, das seinen Regisseur durch drei Jahrzehnte begleitet hat: In den 70er-Jahren stieß Scorsese eher zufällig auf Herbert Asburys gleichnamiges Buch (Mehr dazu im Artikel 'Die Faszination des Bösen'). Sein Freund und Drehbuchautor Jay Cocks begann bald darauf, eine Story zu entwickeln. Aber vor allem die ungesicherte Finanzierung des geplanten Films verzögerte die Fertigstellung des Drehbuchs immer wieder. Zur Legendenbildung rund um Gangs of New York gehören inzwischen auch die kolportierten Auseinandersetzungen zwischen Scorsese und seinem Produzenten Harvey Weinstein. In Scorseses Darstellung reduzieren sich diese allerdings auf ein Kräftemessen zwischen seiner eigenen beständig ausufernden Erzählwut und dem professionellen Kalkül seines Geldgebers: "Wir müssen jetzt dann zu einem Ende kommen!" - "Ja, ich weiß - we're getting there!"

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Es ist also Winter, in der Stadt liegt Schnee. Vor der Oper warten schon die Kutschen auf New Yorks Großbürgertum, das sich zum alljährlichen Ball bei der Familie Beaufort begibt (The Age of Innocence). Oder: Zwei wilde Horden stehen Fortsetzung auf einander mitten im kalten, gleißenden Weiß auf einem freien Platz brüllend gegenüber. Dann stürzen sie sich in eine Schlacht, deren Opfer den Schnee blutrot färben (Gangs of New York).

Die Stadt und die Gewalt

Ein Ort und ein Affekt, die sich durchs gesamte Werk des inzwischen 60-jährigen italoamerikanischen Regisseurs verfolgen lassen. Verschieden akzentuiert, in unterschiedlicher Gewichtung und Färbung. Die Stadt, die schon in Scorseses erstem Spielfilm Who's That Knocking at My Door?, 1968, New York heißt. Und die sich schon in diesem ersten Film mit der Gewalt verbindet. Mit der Vergewaltigung einer jungen Frau und dem Psychoterror, den ihr katholischer Freund, geübt im Messen mit zweierlei Maß, auf sie ausübt. Die Stadt, die Figuren wie Johnny Boy (Mean Streets) oder Travis Bickle (Taxi Driver) hervorbringt.

Mit seinen New York Stories hat Martin Scorsese vor allem Filmgeschichte geschrieben und sich in den Kritikercharts ebenso konstant gehalten wie in der Gunst seines Publikums. Allerdings war das Verhältnis der Figuren zu ihrem Umfeld dabei auch meistens anders gewichtet als in Gangs of New York. Im Mittelpunkt standen die männlichen Protagonisten (verkörpert etwa von Robert de Niro, Harvey Keitel oder Ray Liotta): ihre Sprache, ihr Habitus, ihre neurotischen Tics und Manien, ihr Umgang miteinander und ihre Zugehörigkeit zu "Familien", die die Stadt auf einen überschaubaren und vermeintlich beherrschbaren Raum reduziert erscheinen ließ. Und auch wenn in Gangs of New York vieles an diese Grundanlage erinnert - die Exposition mit der Vorstellung der Hauptakteure, u.ä. - so erreicht er doch nie jene Ebene der Sensibilität, die die Anziehung früherer Filme ausmacht. Zu breit angelegt und verzweigt ist der (historische) Hintergrund, zu vordergründig bleiben die Figuren und ihre Konflikte.

Immerhin geht es in diesem Film auch darum, so etwas wie einen Gründungsmythos nachzutragen: "Amerika wurde in den Straßen geboren.", steht auf dem Plakat. Die Gewalt ist hier handfest und blutig - aber auch wenn sie so subtil und kaum greifbar auftaucht wie in The Age of Innocence hinterlässt sie Spuren. Dieser Film, der entstand, als das Projekt Gangs of New York schon in seinem Kopf herum geisterte, sagt Scorsese, habe ihm erlaubt, sich dieser Epoche erstmals anzunähern:

"Die Leute, um die es darin geht, lebten schließlich nur ein paar Blocks von den Five Points entfernt. Und auch Age of Innocence ist im Grunde ein Film über Stammesfehden. All das Tafelgeschirr, die Gläser, die Bestecke - das sind gewissermaßen erotisch besetzte, tribalistische Artefakte, die die Hauptfigur gefangen halten. Jay Cocks hat mir seinerzeit den Roman gegeben und Edith Wharton ist diejenige, die einem den Hinweis liefert, wie man die Vergangenheit betreten könnte - mit ihren unzähligen Details, den seitenlangen Beschreibungen von Porzellangeschirr. Meine erste Berührung mit dieser Epoche war allerdings Gangs of New York. Ich habe mir dann andere Bücher besorgt, die Quellen von Asbury angesehen, begonnen, mich für andere historische Aufarbeitungen dieser Zeit zu interessieren und über Jahrzehnte haben mich meine Freunde mit entsprechendem Material versorgt."

Sein eigentliches Ziel sei es gewesen, dass das Publikum den Film eher "bewohne" anstatt ihn rein handlungsorientiert zu verfolgen. Im Widerstreit mit den auf Konsumierbarkeit und Vermarktung hin ausgerichteten Ansprüchen einer starbesetzten, millionenschweren Großproduktion ist Scorsese, der obsessive Materialsammler und Geschichtenerzähler, aber leider in großem Stil unterlegen. (DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.2.2003)