Große Menschen sind oft ziemlich klein. So staunte ich nicht schlecht, als Luigi Dallapiccola, der große italienische Komponist, in der Lobby des Grazer Parkhotels Anfang der 70er-Jahre erstmals leibhaftig vor mir stand.

Gerade, dass ich mich nicht bücken musste, um dem zierlichen Herrn die Hand zu reichen. Fast stand zu befürchten, eine un-achtsame Bewegung seines mächtigen Pferdekopfes könnte den schmächtigen Körper zum Kippen bringen. Ähnlich wie seinen un-seligen einstigen Staatschef Benito Mussolini hätte man ihn als einen "Sitzriesen" bezeichnen können.

Freilich war Dallapiccola als Italiens einziger markanter Vertreter der dodekafonischen Schule zu dieser Zeit in Graz kein Unbekannter mehr. Seine Opern Vola di notte (Nachtflug) und Canti di prigionero (Der Gefangene) gelangten im Opernhaus immerhin schon in den 50er-Jahren zur österreichischen Erstaufführung. Diesmal war er zur Uraufführung seines Werkes für Solostimme und Kammerorchester mit dem Titel Commiato nach Graz gekommen.

Was an dem vitalen alten Herrn neben seinen vollendeten Umgangsformen außerdem ganz besonders auffiel, war sein perfektes Deutsch, das er bis in die feinsten Nuancen der Rhetorik stets wirksam und treffend anzuwenden verstand. Auf die Frage, wo er sich denn seine glänzenden Deutschkenntnisse erworben habe, antwortete er wie aus der Pistole geschossen: "In Graz."

Sein Vater, ein Lehrer, stammte nämlich aus Südtirol und galt, weil der Name Dallapiccola wirklich nicht sehr tirolerisch klingt, während des Ersten Weltkriegs als politisch unzuverlässig. Daher internierten die Österreicher gleich die ganze Familie in Graz. Das war für Vater Dallapiccola freilich nicht sehr lustig, für den damals 14-jährigen Luigi aber bestimmend für sein weiteres Leben.

Irgendwie hat es sich während dieser Internierung in Graz offenbar doch einigermaßen leben lassen. Sonst hätte der Filius nicht Abend für Abend den Aufführungen in der Oper - wenn auch nur auf dem Stehplatz - beiwohnen können. Und während einer Vorstellung von Wagners Fliegendem Holländer war er von der "surrealen Magie dieser Vorstellung", wie sich Dallapiccola noch nach Jahrzehnten schwärmerisch ausdrückte, so übermannt, dass er beschloss, Komponist zu werden.

So sind es mit Thomas Manns fiktivem Adrian Leverkühn und mit Luigi Dallapiccolas Landsmann Ferruccio Busoni schon drei markante Gestalten des neueren Musiklebens, die in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts in Graz prägende Impulse und markante Eindrücke erhielten.

An sie wäre zu denken, fragt man sich nun, warum ausgerechnet Graz ein Jahrhundert später (oder vielleicht auch gar zu spät) zur Kulturhauptstadt Europas gekürt wurde. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.02.2003)