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Das ehemalige Prachtpier

Foto: Reuters/ PAUL HACKETT

Brighton - Ruinentourismus, könnte man sagen. Fotoapparate klicken, Schaulustige stehen am Strand und starren wie gebannt auf das Monstrum im Meer. Der Trümmerhaufen war einmal die nobelste Seebrücke des Königreichs. Aber jetzt sieht der West Pier in Brighton eher aus wie eine Kriegsfilmkulisse.

Das Dach des Konzertsaals mit seinen kleinen Kuppeln, die preußischen Pickelhauben ähneln, hängt schief, jeden Moment könnte der viktorianische Prunkbau in die See plumpsen. Zwei Tage vor Silvester war der Pier von einem schweren Sturm durchgerüttelt und beschädigt worden. Wahrscheinlich muss er nun Pfeiler für Pfeiler abgerissen und wieder aufgebaut werden.

Ein moderner Glaspalast

Doch an diesem Punkt erhitzen sich die Gemüter. Soll das 19. Jahrhundert originalgetreu auferstehen? Oder doch lieber ein moderner Glaspalast in der See? Und: Hat ein Pier überhaupt noch einen Sinn?

Nüchtern betrachtet hatten die Bürger von Brighton seit 1975 Zeit, darüber nachzu denken. Damals wurde der westliche Pier wegen Baufälligkeit gesperrt. Eine Stiftung schmiedete ein paar Jahre Pläne für die Reparatur. Diese scheint nun kaum noch möglich zu sein. "Erst einmal muss der Abrissbagger her", räumt Rachel Clark ein, die Managerin des "West Pier Trust".

Pier-Neubau oder Einkaufspassage

Viktorianisches Erbe gegen schnöden Kapitalismus, darauf läuft es für die Bürgerinitiative "S.O.S." (Save Our Sea- front!) hinaus. Sie fürchtet nicht den Pier-Neubau selbst, sondern die klotzige Einkaufspassage, die zusätzlich an den Strand gebaut werden soll. "Bloß kein Betonmonster", wettert "S.O.S."-Mitglied Gerald Ravenscroft, während er mit klammen Fingern Flugblätter verteilt. "So ein Ding verdirbt uns allen den Blick."

Molen-"Rolls-Royce"

Seebrücken gehören zu eng- lischen Seebädern wie Zuckerwatte und Wahrsagerin. 91 Exemplare ragten einst mehr oder weniger weit ins Meer hinein. 55 sind noch intakt, 36 wurden gesperrt und zum Teil abgerissen. Der West Pier in Brighton aber galt immer als Rolls-Royce unter den Molen. Hier gab sich die High Society ein Stelldichein.

Nun gibt es zwar immer noch eine High Society, die aber trifft sich lieber beim Pferderennen in Ascot oder oder bei der Gartenparty auf dem Rasen der Queen. Die Paläste, die über dem Wasser zu schweben scheinen, sind eine Spezies von gestern.

Badeurlaub

Vor allem leiden sie darunter, dass kaum noch ein Brite Badeurlaub an der britischen Küste macht. Ibiza etwa ist nicht nur sonniger, billiger ist es auch. Brighton oder Walton-on-the-Naze oder Weston-super-Mare sind vielen nur noch einen Tagesausflug wert; weshalb sich ein Ballsaal für den abendlichen Walzer nicht mehr recht lohnt.

Die neuzeitliche Alternative zur einstigen Noblesse lässt sich auf dem Palace Pier studieren, zehn Minuten zu Fuß vom traurigen West Pier entfernt. Es gibt Wurfball- und Hotdog-Stände, dazu wenigstens zweihundert Spielautomaten - und ganz hinten dröhnt eine Hochschaubahn.

Der Rummelplatz reicht als Abschreckung: Einen zweiten will sich Brighton nicht antun. Also soll der West Pier, wenn er denn wieder entsteht, ein bisschen vornehmer werden. Eintritt wie früher will Managerin Clark nicht wieder kassieren, dafür verspricht sie ein Museum und ein gepflegtes Restaurant.

Lotterie will fördern

Die Lotterie will das Vorhaben mit umgerechnet 20 Millionen Euro fördern, nur will sie das schon seit drei Jahren. "West Pier II" gehört nämlich zur Kategorie Millenniumsprojekt, und bei dieser Rubrik denken Briten sofort an ein Fass ohne Boden. Angeführt wird die Liste dieser Projekte vom Millennium Dome: Das Riesenzelt rottet seit zwei Jahren still und verlassen vor sich hin - ein Lotteriegeld-Grab.

George Furguson, Präsident des hoch angesehenen Königlichen Architektur-Instituts, gibt der Seebrücke als solcher keine große Zukunft mehr. "Piers wurden als Promenaden gebaut, aber wir promenieren heute einfach nicht mehr im Sonntagsstaat am Meer. Wozu brauchen wir sie dann eigentlich noch?" (Frank Hermann aus Brighton, DER STANDARD Printausgabe 14.2.2003)