Ralf Dahrendorf ist Mitglied des britischen House of Lords, ehemaliger Rektor der London School of Economics und ehemaliger Rektor des St. Anthony's College, Oxford

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Wie ein im Zusammenhang mit dem Irakkonflikt gerne bemühter Vergleich auf beiden Seiten des Atlantiks den Blick verstellt auf "würdevollere" und "effektivere Möglichkeiten" des gemeinsamen Handelns gegenüber totalitären Bedrohungen der grundlegenden westlichen Werte.

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Was auch immer letzten Endes geschieht: Die Debatte um einen möglichen Irakkrieg hat grundlegende Fragen aufgeworfen, über die keine Übereinkunft existiert, nicht einmal unter Freunden, die nicht verschwinden werden und die auch nicht ignoriert werden können. Wenn sie nicht von jenen geklärt werden, denen die Freiheit lieb und teuer ist, wird der Preis hoch sein.

Drei Bereiche stehen im Vordergrund. Erstens riefen uns die Terrorangriffe auf New York und Washington im Jahr 2001 (falls wir es vergessen hatten) ins Gedächtnis, dass es ein Wertebündnis, genannt "der Westen", gibt. Diese Werte der Aufklärung bilden die Basis für die Entstehung der Freiheit und verbinden die Länder Nordamerikas, Europas und einiger anderer Teile der Welt miteinander.

Wenn sich zwischen diesen Ländern in der Interpretation der westlichen Werte eine Kluft auftut, ist das eine schlechte Neuigkeit. Möglicherweise ist dies zwischen den USA und vielen Europäern eingetreten. Wenn dem so ist, so besteht die Herausforderung darin, diese Kluft zu schließen, nicht aber sie auszunützen, sei es für unilaterale amerikanische Interessen oder zur Stärkung der europäischen Einheit.

Zweitens erfordert die Verteidigung unserer Werte Instrumente der Machtausübung. Macht ist in der heutigen Welt vielleicht diffuser geworden. Manche reden sogar vom "Regieren ohne Regierung", weil wirtschaftliche Geschicke teilweise ohne erkennbare Herrscher beschieden werden. Dennoch ist traditionelle Macht nach wie vor vorhanden, und sie ist mehr als nur die Größe von Bevölkerungen oder deren Bruttoinlandsprodukte. Letztlich bleibt Macht die Fähigkeit zu zwingen. So gesehen verfügt Europa über nur geringe Fähigkeiten. Es ist ist darauf angewiesen, dass Bündnisse Macht ausüben, und diese werden vermutlich noch für einige Zeit von Amerika abhängig sein. Auf die asiatischen und lateinamerikanischen Mitglieder der freiheitlichen Verfassung trifft so ziemlich das Gleiche zu. Mehr als in den meisten anderen Bereichen ist Wunschdenken hier ein tödlicher Fehler.

Warnendes Beispiel

Drittens: Wenn die grundlegenden Werte, an denen der Westen festhält, irgendwo bedroht werden, müssen wir entweder darauf vorbereitet sein, sie zu verteidigen oder sie kampflos aufzugeben. Natürlich ist militärische Macht nur eine Art und Weise, seine Überzeugungen zu verteidigen, und ihr Einsatz muss wohl überlegt - aber auch rechtzeitig - sein. Die Beschwichtigungspolitik in München 1938 entfachte eine Katastrophe. Für den letztendlichen Sieg der Demokratie im Jahr 1945 musste ein schrecklicher Preis gezahlt werden, und ohne amerikanisches Eingreifen wäre es erst gar nicht dazu gekommen.

All dies spielt bei der aktuellen Krise eine Rolle. Die USA sind für die Werte des Westens zentral; wenn sie angegriffen werden, werden wir alle angegriffen. Der Irak ist ein Schurkenstaat, der sich als Bedrohung für sein eigenes Volk und seine Nachbarn erwiesen hat. Zumindest teilweise ist er dafür bekannt, nach Massenvernichtungswaffen zu streben. Deshalb muss es eine mutmaßliche Folgerung zugunsten der amerikanischen Vorgehensweise geben, ein Argument, das nachdrücklich und überzeugend vom britischen Premierminister Tony Blair vorgebracht wurde. Das letzte Wort zu diesem Thema ist sicher noch nicht gesprochen. Aber es ist das erste Wort. Darüber hinaus ist es der erste Grundsatz, der die Handlungen derer leiten sollte, die die westlichen Werte teilen.

Dies wirft zwei Themenbereiche von entscheidender Wichtigkeit auf. Der erste ist, dass Demokratien nicht ohne die zumindest stillschweigende Zustimmung ihrer Völker Krieg anfangen können. Die Bürger müssen davon überzeugt werden, dass die Gründe (insbesondere für Präventivmaßnahmen) einer genauen Prüfung standhalten. Dies ist der Grund, warum - sogar zu diesem späten Zeitpunkt - mehr getan werden muss, um der Öffentlichkeit in den Ländern, die bereit sind für die Freiheit zu kämpfen, stichhaltige Gründe für einen Krieg vorzulegen. Andere Demokratien müssen ebenso überzeugt werden; in der Tat müssen die Maßnahmen die Zustimmung internationaler Organe erhalten. Deshalb sind UN-Inspektionen unbedingt notwendig, und deshalb waren auch Blair und der französische Präsident Jacques Chirac im Recht, als sie diejenigen in der Regierung Bush unterstützten und stärkten, die dabei die Rolle des UN-Sicherheitsrates anerkannten.

Zweierlei Blindheit

Der zweite Themenbereich hat mit den vorstellbaren Verhältnissen am Ende jeglicher Maßnahmen, die ergriffen werden, zu tun. Erwägungen über einen "Regimewechsel" reichen nicht. Erwägungen, den Irak für ungefähr achtzehn Monate zu besetzen, sind verlockend, aber unzulänglich. Die Besetzung Deutschlands - und Japans - nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte nach langjährigen intensiven Kampfhandlungen und zu einem Zeitpunkt, als die bezwungenen Länder ihre Niederlage als unumstößlich betrachteten. Sogar damals dauerte es weitaus länger als achtzehn Monate, eine funktionsfähige demokratische Ordnung herzustellen. Zudem ist die Frage offen, ob etwas in der Struktur der irakischen Gesellschaft als Grundlage dienen kann, auf der man die freiheitliche Verfassung im Euphrat-Tigris-Tal verankern kann. Antworten auf diese Fragen könnten gefunden werden. Amerikas Verbündete könnten sie geben.

Ein unglücklicher Vergleich, der in der Irak-Angelegenheit verwendet wurde, lässt Amerika als Chef dastehen und andere, insbesondere Europa, als Reinigungspersonal. Amerika, das die Eier aufschlägt, und andere, die das Omelett braten, wäre besser. Auf geschlossene Art für westliche Werte einzustehen und dann die Aufgaben an diejenigen zu delegieren, die sie am besten erledigen können, scheint ein wirkungs-und würdevollerer Ansatz als das augenblickliche Schauspiel, bei dem Amerikaner beinahe blindlings vorrücken, während Europäer versuchen, nicht hinzusehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 8./9.2.2003)