Subkontinent in Bewegung

Indien ist ein Entwicklungsland, daran besteht kein Zweifel. Die Richtung dieser Entwicklung ist aber alles andere als einheitlich. Hier Müllberge, lähmende Armut und kaum Lebenschancen für Millionen, dort blühende Handelsbilanzen, High Tech-Zonen und 1-A-Handynetze.
Foto: Angelika Kampfer

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Frauenleben in Westbengalen

2001 hat sich die als Kalkutta bekannte Hauptstadt Westbengalens wieder in das aus dem bengalischen abgeleitete Kolkata unbenannt.
Der Großraum zählt zu den dichtbesiedeltsten Gebieten Indiens. Geschätzte 17 Millionen Menschen leben hier. Der Eindruck von rasch wachsenden Städten und der real vorhandenen Landflucht sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch rund 70 Prozent der WestbengalInnen auf dem Land leben.
Die Überlebensstrategien der Armen unterscheiden sich je nach dem, ob sie in den abgeschiedenen Dörfern weitab der Städte leben oder in den slum-ähnlichen Vorstädten Kolkatas. Frauen und Mädchen sind von den harten Lebensbedingungen noch stärker und anders betroffen als Männer - ein Grund für Sozialeinrichtungen und NGOs, Schwerpunkte ihrer Arbeit auf die Förderung von Frauen zu legen.
APA

Bildungsfragen

Sozialarbeit heißt in Westbengalen vor allem Bildungsarbeit. Geschätzte 30 Prozent AnalphabetInnen leben in der Region Kolkata. Die Zahl der SchulabrechnerInnen ist vor allem bei den Mädchen groß, weil die Eltern aus eigenen Zukunftssorgen eher in die Ausbildung der Söhne investieren.
Neben der formalen Schulbildung fehlen den Massen der Armen auch gesundheitliche Grundkenntnisse. Diese wären jedoch besonders notwendig, weil das indische Gesundheitssystem vor allem in den ländlichen Gebieten schlecht ausgestattet ist.

Im Bild: Das Hauptgebäude des "Sundarban Social Development Center".

Foto: Angelika Kampfer

Müttergesundheit

In der Region 24 Süd Pargana, dem Ganges-Deltagebiet südlich von Kolkata, haben engagierte Einzelpersonen das "Sundarban Social Development Centre" (SSDC) aufgebaut. In dem Zentrum werden u.a. Qualifizierungsprogramme für Frauen und Mädchen angeboten: Die Palette reicht von Schreiben und Lesen-Lernen und Gesundheitsvorsorge, über nachhaltige Landwirtschaft bis zu PC-Kursen.
Im angeschlossenen Mütterzentrum können sich Schwangere einem Monitoring-System anschließen, was ihnen auch nach der Geburt medizinische Versorgung ermöglicht. So sollen nachhaltig Fehlernährung und Krankheiten bei Mutter und Kind verhindert werden.

Im Bild: Junge Mütter kommen zur monatlichen Untersuchung ins SSDC.

Foto: Angelika Kampfer

Grauer Star

Das SSDC ist auch das einzige medizinische Zentrum in der Region Sundarban, in dem Graue Star-Erkrankungen operiert werden. Der Eingriff kostet für Nicht-Versicherte nichts, Personen mit Einkommen müssen bezahlen. Die Eintrübung der Augenlinse ist in Indien und Entwicklungsländern im allgemeinen der häufigste Grund für Erblindung.

Im Bild: Ein Patient wird von einer Ärztin auf die Augenoperation vorbereitet.

Foto: Angelika Kampfer

Das Trainingszentrum des SSDC

Hier finden die Trainingseinheiten für NGO-MitarbeiterInnen, LehrerInnen und Mütter statt.
Foto: Angelika Kampfer

Technologiesprung

Das SSDC ist auch in ländlichen Dörfern aktiv, so auch in Dodpur, wo 1.500 Familien leben. Die AnalphabetInnen-Rate liegt hier bei nahezu 100 Prozent. Das Zentrum hat in Dodpur drei Selbsthilfegruppen von Frauen aufgebaut, die Sparsummen der Gruppen werden von der NGO kontrolliert. Mit dem ersparten Geld sollen nachhaltige Investitionen gemacht werden, doch es kommt auch immer wieder vor, dass Mütter mit dem Geld die Mitgift ihrer Tochter finanzieren.

Im Bild: Technologie-Sprung: Auch wenn es kein Stromnetz gibt, das Handy funktioniert trotzdem. Aufgeladen wird das Gerät im Nachbardorf zu einem geringen Aufpreis von 2 Rupies.

Angelika Kampfer

Religionen

Bei Dodpur handelt es sich um ein muslimisches Dorf, Hindus sind hier in der Minderzahl. Grundsätzlich verläuft die Verteilung der Religionsgemeinschaften aber in entgegensetzter Richtung: Mit 75 Prozent stellen die Hindus die Mehrheit in Westbengalen dar, MuslimInnen machen ca. 23 Prozent aus.
Offiziell funktioniert das Zusammenleben gut, trotzdem werden Unterscheidungen zwischen den Bevölkerungsgruppen getroffen: MuslimInnen gelten als noch ärmer, weil sie größere Familien zu ernähren haben.
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Arrangierte Ehe

Die 28-jährige Manasi ist Koordinatorin im SSDC. Sie beaufsichtigt die Selbsthilfe-Gruppen in den Dörfern und bildet Leiterinnen aus. Die Schwerpunkte der Bildungsprogramme liegen hier auf Familienplanung und die Verhinderung von Kinderheiraten.
Selbst ist die Sozialarbeiterin noch nicht verheiratet, was für bengalische Verhältnisse eine Seltenheit darstellt. Ihrer finanziellen Unabhängigkeit zum Trotz vertraut Manasi auf ihre Eltern, was die Auswahl ihres Ehemanns betrifft: "Meine Eltern kennen mich sehr gut und wollen nur das beste für mich."
Foto: Angelika Kampfer

Landwirtschaft

Zwar haben die Linksregierungen Westbengalens seit den 1970ern zahlreiche Landreformen durchgeführt, doch trotz der vergleichsweise hohen Zahl an Kleinbauern, die Land besitzen (in Dodpur 40 Prozent), ist die Existenzsicherung für die Landbevölkerung sehr schwer. Unstabile Preise für landwirtschaftliche Produkte, Arbeitsmigration und die zunehmende Wetterunsicherheit mindern das Einkommen der Familien.
Foto: Angelika Kampfer

Arbeitsmigration statt Landflucht

Eines der größten Probleme am Land ist das fehlende Trinkwasser. Weil es kaum Brunnen gibt, wird das Wasser aus den umliegenden Deichen entnommen, die gleichzeitig zum Waschen und als Abwassersystem benützt werden.
Es ist nicht immer Landflucht, die die Menschen in die Städte treibt. Viel öfter werden die Familien zerrissen, wenn die Männer auf Arbeitssuche in die Städte ziehen und die Frauen mit den Kindern in den Dörfern zurücklassen.
Foto: Angelika Kampfer

Schiffsverkehr

Erreichbar sind viele Dörfer im Ganges-Delta nur mit Booten. Die meisten Inseln liegen unter dem Meeresspiegel und sind bereits jetzt den Folgen des Klimawandels ausgesetzt. Gefährdet ist damit auch das Naturschutzgebiet des weltberühmten bengalischen Tigers nur wenige Kilometer entfernt. Im östlichen Delta drohen Überschwemmungen und Wilderer den Bestand noch zusätzlich zu dezimieren.
Angelika Kampfer

Religiöse Waschungen

An heiligen Stätten am Ganges-Ufer kommen gläubige Hindus zusammen, um religiöse Waschungen durchzuführen.
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Religiöse Zeichen ...

... am Wegesrand.
Foto: Freudenschuss

Feldarbeit ...

... ist Frauenarbeit. Im Jänner werden die vereinzelten Reispflanzen aufgesammelt.
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Reisfelder

Das satte Grün der Reisfelder kann mit Fug und Recht als die natürliche Attraktion der ländlichen Regionen bezeichnet werden.
Angelika Kampfer

Kakaobohnen

Schokolade, die an Bäumen hängt … so sehen Kakaobohnen im Naturzustand aus.
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Bau der Bischofs-Kathedrale in Baruipur

Die ChristInnen in Westbengalen stellen eine verschwindende Minderheit dar. Nicht einmal ein Prozent gehört dieser Glaubensgemeinschaft an. In Baruipur, einem Vorort von Kolkata, entsteht derzeit die Kathedrale von Bischof Lobo.
Bevor der Bau in Angriff genommen wurde, investierte die Entwicklungsabteilung der Diözese in die Sozial- und Bildungseinrichtung PUS. Mit PUS werden vor allem lokale NGOs und religiöse Einrichtungen mit Know-How und Geldern ausgestattet.

Im Bild: Der Lohn dieser Bauarbeiter, die als Tagelöhner beschäftigt sind, beträgt um die drei Euro (150 Rupies) pro Tag.

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Straßenverkauf

Der Klein-Handel mit Fischen gehört zu den wichtigsten Einnahmequellen von Frauen.
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Personen-Verkehr I

Mehr als eine halbe Million Menschen pendeln jeden Tag in die Metropole Kolkata.
Als beliebtes Fortbewegungsmittel gelten diese Taxis mit offener Seitenfront.
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Personen-Verkehr II

Busse sind neben Zügen die meistgenutzten öffentlichen Verkehrsmittel. Wie lange die Fahrt von A nach B dauern wird, weiß mensch im Vorhinein aber nicht so genau. Es gilt die Regel: Abfahrt ist dann, wenn mindestens acht PassagierInnen eingestiegen sind.
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Ambassador

Der Stolz der indischen Automobil-Industrie heißt Ambassador. Letztes Jahr feierte der "Indien-Käfer" sein 50-jähriges Bestehen. Von den Taxi-Fahrern angefangen bis zu hochgestellten RegierungsvertreterInnen – alle sind in der Kugel im ewigen Retro-Design unterwegs.
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Slums von Kolkata

Die erste Anlaufstelle für ArbeitsmigrantInnen und ZuwanderInnen sind meist die Slums von Kolkata. Länger bestehende Siedlungen sind immerhin mit Trinkwasserbrunnen und Stromnetz ausgestattet, die Lebensbedingungen bleiben trotzdem beengt und hart.
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Monsum

In dieser Behausung wohnen fünf Personen. Wenn der Monsum kommt, steht das Wasser bis zu den Oberschenkeln in der Baracke. Verlassen kann man sich wenigstens auf die NachbarInnen: "Sie kommen vorbei und bringen Essen", berichtet die Mutter.
Angelika Kampfer

Badezimmer

Beengtes Wohnen verlangt eine genaue Ordnung.
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Auch Nasni (18) zeigt ihre Behausung her. Sie ist Schülerin des "Instituts für Sozialarbeit" (IWC) in den Slums von Kolkata. Ihr Vater kann wegen Alkoholproblemen nicht mehr arbeiten, die Mutter erhält als Hausangestellte mit einem Einkommen von 700 Rupies die Familie.
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Positives Selbstbild

Das IWC ist eine Frauenorgansation mit Schwerpunkt auf Frauen- und Mädchenarbeit. Seit 1978 sind die Frauen in der Region Kolkata tätig mit dem Ziel, Frauen ein positives Selbstbild zu vermitteln. Ihr Angebot reicht von Bildungskursen, Rechtsberatung über Anleitung zu Kollektivbildung und Vergabe von Mikro-Krediten.
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Kinderheirat

Dr. Susmita Bhattacharya unterrichtet Englisch im IWC. Oft sind die Eltern vom schulischen Ehrgeiz ihrer Töchter nicht begeistert. "Wenn die Mädchen einmal verheiratet sind, ist es aus," weiß Bhattacharya aus Erfahrung.
Ein Schwerpunkt des IWC liegt demnach darin, Kinderheiraten zu verhindern. Eltern müssen über die Wichtigkeit einer Schulausbildung für ihre Töchter überzeugt werden. Die Mitarbeiterinnen des IWC kämpfen für jeden einzelnen ihrer Schützlinge. "Wir gehen von Haus zu Haus und sprechen mit den Eltern". Doch nicht immer wird der hohe Einsatz auch belohnt. "Manche Entscheidungen können auch wir nicht revidieren", meint Bhattacharya.
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Sexuelle Gewalt

Gewalt und sexueller Missbrauch gehört zum Alltag in den überfüllten Slum-Gegenden. Besonders Mädchen sind gefährdet, was für die Eltern einen weiteren Grund darstellt, sie so schnell wie möglich zu verheiraten.
Im Kontrast dazu steht der Raum, den das IWC den Mädchen bietet. Hier erhalten sie eine warme Mahlzeit, können ungestört lernen und bekommen Unterstützung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Ziele.
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Stark gegen häusliche Gewalt

Rund 200 Frauengruppen leitet das IWC in Kolkata und Umgebung. Diese sollen Frauen soweit in ihrem Selbstbewusstsein stärken, dass sie sich selbst zutrauen, für ihre Rechte zu kämpfen.
In den Dörfern repräsentieren diese Gruppen inzwischen ein effektives Gemeinschaftskorrektiv: Erfahren die Frauen etwa davon, dass ein Gruppenmitglied von ihrem Mann geschlagen wird, schlagen sie vor dem Haus Alarm. Eine solche Aktion habe Einfluss auf das Verhalten der Männer, so die IWC-Mitarbeiterinnen.

Im Bild: Slum-Architektur: Offene Bauweise im Obergeschoss

Freudenschuss

Eigenes Frauenhaus

Rund 40 Prozent der geschätzten 17 Millionen EinwohnerInnen Kolkatas leben in slumähnlichen Gebieten. Was das IWC als nächstes angehen will ist die Errichtung eines eigenen Frauenhauses, der es geschlagenen Frauen ermöglicht, zumindest für einen kurzen Zeitraum dem Gefahrraum zu entfliehen. Die beste Prophylaxe gegen häusliche Gewalt ist aber nach wie vor die Bildung: "Wir müssen den Mädchen die Bedeutung einer eigenen Ausbildung klar machen. Nur so können sie ihr Leben lang auf eigenen Füßen stehen, und das ist unser Ziel."

Text: Ina Freudenschuß
Bilder: Angelika Kampfer/KFB, Ina Freudenschuß

Foto: Angelika Kampfer