Ina Ivanceanu und Elke Groen kamen als Ausländerinnen in die chinesischen Dörfer und erhielten doch einen "Blick von innen".
Poool-Filmverlei

Jeder siebte Mensch auf der Welt ist eine chinesische Bäuerin oder ein chinesischer Bauer. In ihrem gleichnamigen Dokumentarfilm porträtieren die Filmemacherinnen Ina Ivanceanu und Elke Groen drei chinesische „Fallstudien"-Dörfer, an deren Beispiel sich die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der aktuellen wirtschaftlichen Umwälzungen in China ablesen lassen.


dieStandard.at: Sie haben drei Jahre lang Interviews in chinesischen Döfern geführt und das Alltagsleben der dortigen EinwohnerInnen dokumentiert. Nach welchen Kriterien wurden die von Ihnen porträtierten chinesischen Dörfer ausgewählt und wie haben Sie den Zugang zu ihren Menschen gefunden?

Ivanceanu/Groen: Das wissenschaftliche EU-Forschungsprojekt "SUCCESS", ein Projekt zur Zukunft von Dörfern in China, hatte uns eingeladen, in mehreren Dörfern Videoworkshops mit den BewohnerInnen abzuhalten. Da ging es darum, die Menschen in den Dörfern aktiv in die Forschung einzubeziehen, indem sie ihre eigenen Kurzfilme über ihr Leben und ihre Zukunft drehen - Stichwort "Action Research". Für uns war das die einmalige Gelegenheit, in die Dörfer zu fahren und das Leben dort kennen zu lernen. Als AusländerIn in ein chinesisches Dorf kommen, ist im Normalfall unmöglich. Die WissenschafterInnen des Projekts haben über drei Jahre hinweg gemeinsam mit den DorfbewohnerInnen positive Zukunftsszenarien für die Dörfer entwickelt. So ist gegenseitiges Vertrauen entstanden, das sich während der Videoworkshops und den Dreharbeiten noch verstärkt hat.


Toll war, dass mehr als die Hälfte der Forschenden Frauen waren, sowohl bei den europäischen als auch bei den chinesichen KollegInnen.
Die Dörfer im Film sind drei von sieben Dörfern, die das wissenschaftliche Projekt als „Fallstudien-Dörfer" ausgewählt hatte.


Gemeinsam ist den drei Dörfern, dass sie weder besonders arm noch besonders reich sind, es sind für China typische Dörfer. Gleichzeitig stehen sie stellvertretend für die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen in China. Jedes der drei Dörfer hat eine andere Organisationsform, einen anderen Schwerpunkt: Das erste Dorf, Beisuzha, in der Nähe der Zentralmacht in Beijing, ist ein kommunistisches Musterdorf, das sich langsam Richtung Industrialisierung hin entwickelt. Das zweite Dorf ist San Yuan, in den Ausläufern des Himalaya gelegen, ist ein Dorf der Naxi- Minderheit, die unter Mao besonders gelitten hat und die heute ihre alte Religion und Schrift wieder auferstehen lässt. Weit weg von der Zentralmacht bauen die Bauern und Bäuerinnen hier vor allem Nahrung für den Eigenbedarf an. Jiangjiazhai, das dritte Dorf, gehört zur größten landwirtschaftlichen Experimentierzone Chinas und entspricht am ehesten dem, was im Westen gerne als "turbokapitalistische Entwicklung" beschrieben wird. Seit Nestlé den Verzehr von Milchprodukten in China fördert, stellt das ganze Dorf auf Viehzucht um. Wem das nicht gelingt, der oder die verlässt das Dorf auf der Suche nach Arbeit. Zurück bleiben alte Menschen und Kinder.

dieStandard.at: Wie Sie bereits erwähnt haben, sind in der Dokumentation Kurzfilme aus dem persönlichen Alltag der DorfbewohnerInnen eingebettet, die sie selbst gedreht haben und die auch in den Dörfern vorgeführt wurden. Warum war dieser partizipativer Ansatz wichtig?

Ivanceanu/Groen: Die Kurzfilme der DorfbewohnerInnen waren die Diskussionsgrundlage für unsere eigenen Dreharbeiten. So konnten wir Themen und Fragen in den Film aufnehmen, die für die Menschen in den Dörfern selbst wichtig waren. Es ging uns um diesen Blick von innen. Wir haben die Filme in allen Dörfern öffentlich gezeigt und danach mit den BewohnerInnen diskutiert.

Die Videoworkshops waren auch eine Hilfe dabei, mit den Frauen in den Dörfern in Kontakt zu kommen. Anfangs haben sich meistens die Männer im Dorf für die Videoworkshops interessiert. Als sich dann nach ein paar Tagen herausstellte, dass die Workshops wirklich Arbeit für die TeilnehmerInnen bedeuteten - die Kurzfilme mussten ja nicht nur gedreht, sondern auch mit uns diskutiert, geschnitten etc. werden -, sind die Männer meist verschwunden, und wir haben vor allem mit Frauen und Jugendlichen gearbeitet. Da haben wir auch das emanzipatorische Potenzial der Kamera deutlich gespürt. Eine junge Frau kann z.B. mit einer Kamera in der Hand, im Rahmen eines Interviews, das sie selbst filmt, anderen DorfbewohnerInnen, vor allem älteren Menschen, also „Respektspersonen", viel leichter Fragen stellen, als sie das ohne Kamera könnte. Die Kamera verringert genderbedingte, aber auch andere Grenzen.

dieStandard.at: Wie lässt sich die Lebenssituation der Bäuerinnen in den von Ihnen porträtierten Dörfern beschreiben?

Ivanceanu/Groen: In den Dörfern machen die Frauen fast die gleiche Arbeit wie Männer.
Trotzdem wünschen sich die Menschen in den Dörfern vorrangig Söhne - denn Töchter ziehen bei der Heirat in das Haus der Schwiegereltern, und die eigenen Eltern bleiben im Alter unversorgt. Vor allem ältere Frauen geraten so in extreme Armut. Das offizielle China versucht gegen diese Diskriminierung vorzugehen. Wirklich ändern wird sich das vermutlich erst dann, wenn andere Arten von Altersversorgung oder Pensionssysteme entstehen. In Beisuzha gibt es diesen Wandspruch auf der Hauptstraße: „'Mädchen sind weniger wert als Buben', das ist ein alter Gedanke. Er verursacht nur Unheil in der Familie. Jeder soll seine eiserne Schaufel nehmen und diesen Gedanken in den Mülleimer kehren." So ein Schild könnten wir in Europa auch an so mancher Hauswand brauchen.


Dort, wo viele Männer auf der Suche nach Arbeit das Dorf verlassen haben, bewirtschaften die Frauen nun alleine die Felder. Heute werden auch immer mehr Frauen zu Wanderarbeiterinnen, dann bleiben die alten Menschen in den Dörfern und kümmern sich soweit wie möglich um die Landwirtschaft.

dieStandard.at: Mittlerweile wandern schätzungsweise 150 bis 200 Millionen ehemalige BäuerInnen in China als GelegenheitsarbeiterInnen durch die Städte.
Wie sehr sind die Existenzgrundlagen am Land gefährdet?

Ivanceanu/Groen: Jeder Mensch, der/die in einem Dorf in China geboren wird, hat Anspruch auf ein Stück Land. Doch die Felder werden immer kleiner.
Aktuell ist es so, dass die Bevölkerung weiterhin wächst und die winzigen Parzellen der Bauern und Bäuerinnen - ExpertInnen reden sogar von „GärtnerInnen", weil die Felder inzwischen so extrem geschrumpft sind - in Zukunft nicht ausreichend Nahrung produzieren werden. Das heißt, China braucht neue Agrarsysteme und experimentiert zur Zeit viel. Das Spektrum reicht vom Kühe-Klonen bis zur Bio- Landwirtschaft.

dieStandard.at: Wie wirkt sich dieser Wandel auf die Arbeit der Frauen in den ländlichen Gebieten aus?

Ivanceanu/Groen: Die mühsame körperliche Arbeit auf den Feldern wird durch den Einsatz von landwirtschaftlichen Maschinen natürlich erleichtert. Die Arbeitsbereiche der Frauen im ländlichen Raum erweitern sich, soviel ist sicher. Offen bleibt, ob das Leben dadurch besser wird - wenn Bäuerinnen zu Fabriksarbeiterinnen werden, ist die Frage, unter welchen Bedingungen diese neuen Arbeitsformen stattfinden. Aktuell ist es so, dass die Arbeitsbelastung steigt - die Frauen sind jetzt Bäuerinnen UND Fabriksarbeiterinnen UND dann noch Verkäuferinnen etc.


Der Druck, in die Stadt zu gehen, steigt für die Frauen in den Dörfern. Die Schattenseiten sind: Ausbeutung, miserable Arbeitsbedingungen, fehlende soziale Netzwerke Zugleich ist die Urbanisierung auch mit einem gesteigerten Informationsfluss verbunden, und das ist sicherlich positiv. Je mehr die Frauen, egal ob im Dorf oder in der Stadt, über ihre Rechte und Möglichkeiten wissen, desto besser können sie das tun, was für sie richtig ist.. Wir haben mit jungen Frauen gesprochen, die die Arbeit in den Städten als eine große Bereicherung beschrieben haben. In San Yuan haben wir z.B. eine Frau getroffen, die sich im Dorf scheiden ließ. Nach der Scheidung hat sie das Dorf verlassen, um dem sozialen Druck, so schnell wie möglich einen neuen Ehemann zu finden, zu entkommen. Nach 10 Jahren Arbeit in der Stadt ist sie nach San Yuan zurückgekehrt, hat sich mit den Ersparnissen ein neues Haus gebaut und arbeitet jetzt wieder als Bäuerin. Die Leute im Dorf begegnen ihr heute mit viel Respekt. Sie ist eine selbständige Frau und hat sich ihr Haus und ihr neues Leben selber geschaffen, ganz ohne die Unterstützung eines Mannes.

dieStandard.at: In der Filmbeschreibung heißt es, dass die Dörfer zu "Testfeldern für Demokratie und Selbstbestimmung" werden - warum gerade dort?

Ivanceanu/Groen: Die Dörfer in China bekommen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, kein Geld vom Staat und sind weitgehend selbstverwaltet. Das war immer schon so - denn die wirtschaftliche Organisation von Millionen von Dörfern und die administrative Durchdringung von oben waren und sind für die Staatskassen unleistbar. Die Dorfkomitees in China sind daher die einzigen politischen Einheiten, die frei und direkt gewählt werden können. Allein im Jahr 2005 kam es in China zu 86.000 Bauernaufständen. Die Menschen in den Dörfern kämpfen gegen Korruption, gegen Umweltverschmutzung und Industrie und gegen den Verlust ihrer Felder. Hier ist eine Zivilgesellschaft im Entstehen. (Vina Yun, dieStandard.at, 1.12.2007)