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Maurice Pialat

Foto: APA/AFP/Georges
Ein Auftritt wie eine schnelle Abfolge von Schlägen, mitten ins Gesicht: eine Apothekersfamilie, kurz nach der Trennung der Eltern. Bei einem Abendessen werden die Mutter, ihre zwei Kinder und anwesende Gäste durch den hereinpolternden Vater gestört: Er traktiert seine Frau wegen ihres permanenten "Wäh-wäh-wäh", beschimpft seinen Sohn als "Registrierkasse" - und verfällt irgendwann einmal, wie im Rausch, auf van Gogh.

"Die Traurigkeit wird für immer andauern", habe dieser einmal gesagt. "Also, ich dachte wie alle, dass es traurig wäre, ein Typ wie van Gogh zu sein, aber ich glaube, er wollte sagen, dass die anderen traurig sind." Noch einmal bäumt sich der Vater auf: "Die Menschen, die man besonders liebt, die wünscht man sich immer tot!" Dann Getümmel bis an den Rand des Handgemenges, die Mutter wirft den Vater hinaus: Eine Szene aus A nos amours (Auf das, was wir lieben, 1983), dem bekanntesten Film von Maurice Pialat.

Die damals gerade 16-jährige Sandrine Bonnaire hatte er dafür entdeckt, und sich selbst hatte er mit Szenen wie der oben zitierten zu einer der rätselhaftesten Erscheinungen des europäischen Kinos stilisiert. Wenn einer schon so wunderbar Kunst und Kulturgeschichte herbeizitieren kann, so ist es möglicherweise doch nur ein heimtückisches Lallen: eine überreizte Hilflosigkeit. Maurice Pialat spielte immer wieder mit dieser Ambivalenz. Oder richtiger: Er lebte sie bis an den Rand des Selbsthasses und des Hasses auf andere. Und demonstrierte zugleich doch immer wieder eine grobe Sanftheit, derer man mit großen bäuerlichen Pranken fähig sein kann.

Ein Spätzünder

1925 in der Auvergne geboren, begann Pialat seine Laufbahn eigentlich als Maler. Erst mit 43 Jahren drehte er mit L'Enfance nué, wie ein grober knorriger Keil mitten ins Kino der 68er hinein, nach dokumentarischen Etüden seinen ersten Lang- und Spielfilm: Die Geschichte eines zehnjährigen Jungen, der permanent die Pflegefamilien wechselt. Pialat nannte L'Enfance nué im Gespräch mit der deutschen Zeitschrift Filmkritik einmal "unbeholfen". Aber es war immer schwer, ihm so etwas wie Eigenlob zu entlocken: Ihm, der eigentlich immer eher das Missglückte betonte und aus Skrupeln heraus in 35 Jahren gerade zehn Filme zustande brachte.

Leider gaben ihm auch avanciertere Rezensenten in dieser Selbsteinschätzung viel zu lange Recht. Peter Handke etwa bescheinigte Pialat einmal, er sei "meisterhaft, was die Szenen des Alltagslebens betrifft, aber sobald es ans Erzählen geht, wird er ziemlich ungeschickt".

Erst nach A nos amours und vor allem nach dem Überraschungserfolg Police (mit Gérard Depardieu und Sophie Marceau, 1985), die auch stilprägend für neuere französische Auteurs (etwa Catherine Breillat) wirkten, erkannte man den Klassiker, der sich doch gerade dem "Klassizismus, der klassischen gängigen Auflösung" verweigert hatte.

Es ist bezeichnend, dass Maurice Pialat, der permanent jedes Vorurteil grimmig bestätigte, gleichzeitig die Vorurteile übel nahm: "Ich verachte euch auch!", brüllte er Buhrufern beim Festival in Cannes entgegen - obwohl er soeben für die Georges-Bernanos-Adaption Unter der Sonne Satans (1987, wieder mit Depardieu) die Goldene Palme erhalten hatte. Nur noch zwei Arbeiten sollten folgen: Die eine, Van Gogh (1991) zählt heute zu den bedeutendsten und monumentalsten Biopics des europäischen Kinos.

"Human Behaviour"

Die andere, letzte, sollte den Begriff des "Privaten" und der Bildkompositionen, die sich daraus ergeben, für das Er-zählkino völlig neu definieren: In Le Garcu besetzte der Regisseur gegen den Superstar Depardieu niemand Geringeren als seinen eigenen, knapp vierjährigen Sohn Antoine Pialat, drehte weit gehend in seiner Wohnung und anderen Innen- und Außenräumen seines näheren Umfelds - und erreichte damit ein beispielloses Spannungsverhältnis zwischen hoch stilisierten Bildern und einer fast dokumentarischen Ruhelosigkeit. Nie wirkt etwas gewollt mehrdeutig, aber alles ist auf vieldeutige Weise lesbar. Selten werden Inhaltsangaben oder Szenenbeschreibungen dem eigentümlichen Brodeln von Pialats Filmen gerecht.

Was macht man zum Beispiel mit einem Moment wie diesem: Depardieu in der Restauration eines Hallenbades. Im Hintergrund: Eine Frauengruppe versucht Aerobic. Dazu: Björks erster Solohit Human Behaviour. Egal, ob er einen filmischen Entwicklungsroman versuchte oder nur Momente wachsender Unruhe beobachtete oder Laien und Profis aufeinander treffen ließ: Das menschliche Verhalten hat Pialat offenbar immer fasziniert und erschreckt zugleich.

Es ist zutiefst bedauerlich, dass er später, wie man immer wieder hörte, seine weiteren Ideen zu Filmen nicht überzeugend genug fand und in seiner schlechten Meinung von sich selbst zunehmend bärbeißig verharrte. In der Nacht auf Samstag ist er 77-jährig in Paris gestorben. (Claus Philipp / DER STANDARD, Printausgabe vom 13.1.2003)