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Es besteht eine geheime Verbindung zwischen der Langsamkeit und dem Gedächtnis, zwischen der Geschwindigkeit und dem Vergessen. Denken wir an eine äußerst banale Situation: ein Mann geht auf der Straße. Plötzlich will er sich etwas ins Gedächtnis rufen, doch die Erinnerung versagt. In diesem Moment verlangsamt er automatisch seine Schritte. Umgekehrt beschleunigt jemand, der versucht, einen gerade erlebten schmerzlichen Vorfall zu vergessen, unbewusst seine Gangart, als wollte er sich rasch von dem entfernen, was zeitlich noch allzu nahe bei ihm liegt. In der existentiellen Mathematik bekommt diese Erfahrung die Form zweier elementarer Gleichungen: der Grad der Langsamkeit verhält sich direkt proportional zur Intensität der Erinnerung; der Grad der Geschwindigkeit verhält sich direkt proportional zur Intensität des Vergessens" (Milan Kundera) Der "Nach-Denker" gilt vielen als Sonderling, als meist zu spät kommender Grübler, der immer erst nachher, wenn schon alles geschehen ist, denkt. Am bereits Geschehenen lässt sich aber nichts mehr verändern, mit ihm lässt sich nichts "machen". Die Zukunft ist es, die uns scheinbar offen steht. In sie können wir uns grenzenlos hineindenken. Der Vorausdenker wird wichtig; ihm steht unbeschrittener Raum, Grenzenlosigkeit zur Verfügung. Im Grenzenlosen denken zu können und zu dürfen lässt Gedanken fliegen. Schnell können sie überall sein. Nirgends werden sie aufgehalten. Gleichsam aufgefordert, den Möglichkeitsraum zu besetzen, eilen sie von Datum zu Datum ruhelos, bestrebt, keine Leerstelle, keinen freien Platz zu lassen. Die offene, in lineare Zeitdauer gestellte Zukunft war ein Geschenk der Säkularisierung, befreite uns von Endzeitvorstellungen, göttlich verfügten Apokalypsen, jüngsten Gerichten. Es wird die Zeit, die Geschichte in unsere Hände gelegt. Wir verantworten sie selbst, dürfen nicht mehr auf göttliche Gnadeneinwirkungen, eine List der Vernunft oder eine "invisible hand" hoffen. Ertragen wir denn diese "globale Verantwortlichkeit"? Ertragen wir das Gefühl, trotz aller Gestaltungen und Handlungsmöglichkeiten letztlich doch nicht zu wissen, was die Zukunft bringt? Bleibt nicht eine Leerstelle der Ungewissheit, die uns ständig beunruhigt, unsere Verantwortlichkeit relativiert? Befinden wir uns nicht in unaufhebbarer Unsicherheit, die gerade durch die Öffnung der Zukunft über uns hereingebrochen ist? Bemerken wir nicht eine tief greifende Ohnmacht, die sich immer dann einstellt, wenn es um Themen globaler Verantwortlichkeit geht? Ohnmacht ist allenthalben ein unerwünschter Zustand. Ihr gegenüber muss Macht bewiesen werden. Der Menschen Macht besteht im Denken und im Tätig-Sein. Ein unausweichlicher Zirkel stellt sich ein: Um Unsicherheit und Ohnmacht (die Leerstelle Zukunft) zu bewältigen, muss schnell und viel vorgedacht und getan werden. Dies immer aber in bereits "vorgedachten" Bahnen, die mitverantwortlich sind für die beschriebenen Gefühle. Die Zukunft wird damit nicht sicherer, im Gegenteil, wir erhöhen die Komplexität und damit die Unmöglichkeit, sie "in den Griff" zu bekommen. Eine latente "Panikstimmung" führt nicht bloß zu permanent uns begleitenden modernen Apokalypsen und Weltuntergangsszenarien, sie aktiviert das älteste Reaktionsmuster, die Flucht. Um ihr nicht zu verfallen, in ihr depressiv zu werden, muss man schnell sein, schnell weglaufen gelernt haben, immer weiter vordenken, immer weniger nachdenken. Denn im Nachdenken holt uns die Vergangenheit ein, unsere Flucht wäre aussichtslos. Wir wissen es: Die Erinnerung ist nicht immer "das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können"; trotz aller Verklärungsabsicht kann sie schmerzlich sein, und erinnert, das heißt verinnerlicht ist sie erst, wenn alle diese Anteile in meinem Inneren zu einem "ganzen Stück" geworden sind. Dabei muss eine Verlangsamung des Weiter-Denkens stattfinden, ein Anhalten der Bereitwilligkeit zu vergessen, Schmerz und Ohnmacht durch Weglaufen zu bewältigen zu versuchen. Zwar beschenkt uns unsere Natur im Vergessen und Verlernen mit der Gnade, wieder offen sein zu können, nicht in unserer eigenen Vergangenheit festzukleben und nicht los zu können. Jedoch ist die Schnelligkeit und die beschleunigte Flucht wahllos. Sie lässt vergessen, was ständiger Erinnerung bedarf. Ohne zu überprüfen, was verinnerlicht werden soll, was wertvoll ist, beibehalten zu werden, was nicht, eilt sie weiter und vergisst letztlich ihren Zweck, ihre Ursache. In seltsamer Form ist sie damit "auf sich selbst gestellt", bekommt gleichsam eine ontologische Substanz. Man bemerkt sie in der Verbindung von Neu und Gut. Längst scheinen wir uns daran gewöhnt zu haben, dass das Neue das Bessere ist. Innovation ist schon deshalb gut, weil sie ist. Und ebenso gewinnt der "Schnellere", "speed kills", "nicht die Größeren fressen die Kleinen, sondern die Schnelleren die Langsamen", so hört man von allen Seiten. Wenn aber den Neuen und den Schnellen aus ihnen selbst heraus ein so hoher Wert beigemessen wird, braucht man Letzteren auch nicht mehr von woanders her zu begründen. Es steht für sich selbst. Die sich nicht anschließen, nicht mit-kommen, sind (Globalisierungs-)Verlierer, die nach Gründen fragen, "Gestrige", Fortschrittsfeinde oder solche, die aus dem Ressentiment heraus, das Neue nicht zu beherrschen, es kritisieren und bekämpfen. Ein "lebenslanges Lernprogramm" hängt über unseren Köpfen, ein "lebenslängliches" Verlernen und Vergessen wird uns abgefordert. Schon am Beginn des vorigen Jahrhunderts wurden Intelligenzteste auch nach Kriterien der Lösungsgeschwindigkeit abgefasst. Schnell erfassen und kombinieren ist also auch eine Tugend der Intelligenz. Also haben wir auch die "intelligenten Maschinen" erfunden; sie sind auch deshalb intelligent, weil sie schneller sind als unser Denken. Aus der Gehirnforschung, die sich in Teilen ja bemüht, das Gehirn als Computer, als Artificial Intelligence nachzuweisen, bekommen wir allerdings eine alarmierende Nachricht. Schnell denkt und lernt der Mensch hauptsächlich dort, wo bereits die "Bahnen" verschaltet sind, wo also alles auf eingefahrenen Gleisen läuft. Im Nach-Denken hingegen sind angeblich Verlangsamungen, Verzögerungen messbar. Es könnte daher auch geschlossen werden, dass Dauerlernen am Nachdenken hindert, jedenfalls dann, wenn es in schnelle Abfolge gezwungen wird. Wenn aber ohnehin das Neue das Gute ist, darf man in seiner Aneignung, Beherrschung eigentlich kein Problem sehen, und je schneller man es schafft, umso "qualifizierter" ist man. Das mag wohl auch der Grund sein, warum so viel vom Wissen(smanagement) und so wenig von Bildung mehr die Rede ist. Bildung hat nämlich etwas mit Erinnerung und Nachdenklichkeit zu tun. Der Entgrenzung der Zeit, hinein in eine offene Zukunft, entspricht diejenige des Raumes real und virtuell. Für sie war sowohl reale Beschleunigung Voraussetzung (Auto, Flugzeug, Raketen) wie auch virtuelle (Telefon, Fernsehen, Radio, Internet). Räume werden über Grenzen bestimmt und erkannt. Der unendliche leere Raum übersteigt unser Vorstellungsvermögen; auch das Universum hat man sich daher immer begrenzt vorgestellt, wenngleich natürlich jede Grenze einen ihr jenseitigen Raum voraussetzt, ihn jedenfalls spekulieren lässt. Früher waren Raumgrenzen an (ökonomisch mitbedingte) Überlebensformen gekoppelt, die nach höchstmöglicher Autarkie strebten, oder durch "natürliche" geografische Gegebenheiten wie unüberwindliche Gebirge oder Meere gesetzt. Dann kam Kulturell-Gesellschaftliches hinzu: Sprach- und Religionsgemeinschaften (Staatsgötter), Militärmacht, Identitätsideologien (Nation), Sitten, Gebräuche, Gesetze. Diese konstituierten Räume waren aber auch auf Eingrenzung angewiesen. Eine an unendliche Räume gebundene Kultur ist ebenso abstrakt wie die Räume selbst. Immer schon gab es allerdings das Streben der Menschen, Grenzen zu überschreiten, vor allem im Denken, aber auch im Handel. Die technologische Erhöhung von Geschwindigkeit und Beschleunigung machte Grenzüberschreitungen nicht nur möglich, sondern "verallgemeinerte" sie. Heute ist es den meisten Menschen der westlichen Welt möglich, schnell an vielen Orten zu sein, früher brauchten sie dafür ganze Lebensetappen. Grenzüberschreitungen lösen Kommunikationsräume auf. Das weiß der "Pendler" genauso wie der "Turbomanager". Drei Konsequenzen werden sichtbar: Geschwindigkeit wird erstens zur Machtausübung verwendet, sie führt zweitens zu einer radikalen Verunsicherung und drittens zu einer funktionalen Anpassung. Wenn viele Menschen zusammen schnell irgendwo sein können, exportieren sie dorthin ihre "Kultur", der jeweilige Ort wird erobert, beziehungsweise passt sich das Lokale so gut es geht an; aus dem Tourismus gäbe es hiefür viele Beispiele. Anpassung heißt auch den Erwartungen entsprechen. Unterschiedliche Kulturen haben ein Bild voneinander. Der "Fremdenverkehr" transportiert diese Bilder. Machtausübung ist auch Waffe gegen die eintretende Verunsicherung. Grenzüberschreitung heißt partielles Verlassen von Vertrautem, von Heimat, Gewohntem. Sich auf Fremdes einlassen, heißt sich selbst fremd werden. Bei näherem Hinsehen stellt sich Diffusität ein. Warum sind andere anders, was gilt, was ist rechtens? Hier würde sich Nachdenklichkeit einstellen müssen. Doch der schnelle Ortswechsel lässt sie vermeiden. Von überall ist man doch schnell wieder "zu Hause" und will nicht merken, dass auch dort schon das Fremde eingezogen ist, die Diffusität, auch unbewusst mitgebracht, Platz gegriffen hat. Merkt man es, neigt man dazu, böse, zumindest abwehrend zu werden. Die Verunsicherung bleibt aber, raumgebende Kultur und Kommunikation sind sich aus sich heraus nicht mehr evident und müssen vielfach "künstlich" (durch Events und Ähnliches) am Leben erhalten werden. Die Beschleunigung und Raumentgrenzung durch Technologie lässt sich auch anhand moderner Medientechnologien veranschaulichen. Beginnend mit der Installation der ersten Funkleitung konnte Kommunikation weitgehend raumentgrenzt erfolgen. Das Telefon hat die Möglichkeit der Überwindung von Räumen in der Kommunikation in die Privathaushalte verlegt, das Mobiltelefon selbst die Gebundenheit an das lokal verankerte Festnetz aufgehoben. Wo immer man ist, erlaubt das Handy, jederzeit Raumtrennungen durch Kommunikation mit Freunden, geliebten Menschen oder auch Geschäftspartnern zu überwinden, für einen bestimmten Zeitraum, die Dauer eines Telefonates eben, nichtiger werden zu lassen. Freilich konnten solche technologischen Innovationen auch nicht ohne ökonomischen Nutzen bleiben, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Nicht zufällig hat die Möglichkeit der Informationsübermittlung via Funk die Entstehung moderner Börsen vorangetrieben (wer rascher an Informationen kam, hatte im finanzwirtschaftlichen Spiel um Gewinn und Verlust freilich die besseren Karten in der Hand). Die mobile Kommunikation ermöglicht es auch heute vielfach, selbst in der lokalen Abwesenheit vom Arbeitsplatz (der sich als Ort berufsbezogener Tätigkeit ohnedies gerade in Auflösung zu befinden scheint) am Ball zu bleiben, Geschäfte zu treiben etc. Drittens lässt sich gerade anhand des massiven Preis- und Konkurrenzkampfes unter den NetzbetreiberInnen auch verdeutlichen, dass mit Kommunikationstechnologien ein gutes, wenn auch von Instabilität und Kurzlebigkeit gekennzeichnetes Geschäft zu machen ist. Ein weiteres Phänomen der Raumentgrenzung durch Technologie zeigt sich in der Welt der Medien. Die moderne Liveberichterstattung ermöglicht es uns, via Radio, Fernsehen oder Internet die Welt ins eigene Haus geliefert zu bekommen, freilich in allerlei Formen von (journalistischen) Übersetzungen. Liveberichterstattung bedeutet aber auch, dass die Zeit zwischen Ereignis und Information nahezu auf null reduziert wurde, und zwar unabhängig von der Distanz des Ereignisses zur Informationsquelle (Radio, Fernseher, Computer). Wir waren dabei, als im Golfkrieg die ersten Bomben fielen, wir haben gesehen, wie die Berliner Mauer zu Fall gebracht wurde, wir erleben die Eröffnung olympischer Spiele verlässlich mit, unabhängig davon, in welchen fernen Teilen der Welt sie stattfinden mögen. Auch hier lassen sich Vor- und Nachteile anführen: Zweifelsohne hat sich unser Wissenshorizont erweitert, kann unsere Neugierde an fernen Ländern und Ereignissen ein Stück weit befriedigt werden, auch ohne sie zu bereisen, auch ohne vor Ort zu sein. Umgekehrt aber sind mit zunehmender Beschleunigung der Berichterstattung auch vermehrt Zweifel laut geworden, betreffend die Qualität der Information, die häufig ohne Überprüfung (Recherche) weitergegeben wird, betreffend die Informationsflut die uns im Sekundentakt ereilt und insgesamt betreffend die Frage, inwiefern mediale Vermittlung Raum realitätsnahe abzubilden vermag. Und damit ist ein Bogen zum Ausgang unserer Überlegungen geschlagen: "Es besteht eine geheime Verbindung zwischen Langsamkeit und dem Gedächtnis, zwischen Geschwindigkeit und dem Vergessen", hieß es da. Je schneller uns Informationen ereilen, je mehr wir von ihnen aufnehmen sollen (und zwar in permanenter Gleichzeitigkeit), umso geringer wird unsere Chance, das Gehörte, das Gesehene zu verarbeiten, zu behalten und später zu erinnern. Die permanent stattfindende mediale Gleichzeitigkeit von Ereignis und Information erhöht die Chance, das Vergessen zum Zeitpunkt der Medienrezeption, also quasi ebenfalls live, stattfinden zu lassen. Das Vergessen ist damit grenzenlos geworden.