Wien - Irgendwann spült es jeden Wien-Touristen zum Haus Linke Wienzeile 40. Die Fassade von Otto Wagners berühmten Majolikahaus lacht schließlich aus jedem Wien-Prospekt. Ein-, zweimal auf den Auslöser der Kamera gedrückt und weiter zum Naschmarkt. Wen interessiert, was früher war? Oder die Besitzverhältnisse der Objekte?Stephan Templ, Koautor des Buches "Unser Wien. ,Arisierung' auf österreichisch", lädt einmal im Monat zu einer besonderen Führung durch Wien. Ein ungustiöses Stück Zeitgeschichte, das er da vorstellt. Templ zeigt das "arisierte" Wien. Er wolle ein Bewusstsein schaffen, in welchem Umfeld die Menschen wohnen, sagt der Buchautor über seine Touren, die er für das Architekturzentrum Wien (AZW) gestaltet. Für die rund 50 Teilnehmer ist der Spaziergang ein Eintauchen in die verdrängte Geschichte der eigenen Nachbarschaft. So auch bei Wagners Majolikahaus, 1938 im Eigentum von Wilhelm Frankl, der im April wegen "Zeichens von Verfolgungswahn" entmündigt wird. Die Frankls werden nach Theresienstadt deportiert. Sie überleben. Ihr Besitz wird durch einen Zwangskurator "verkauft". Neue Besitzer werden die Großschlächter Wöber. Nach dem Krieg prozessieren die ehemaligen Eigentümer um Rückstellung - ohne Erfolg. Die Wöbers vermachen das Haus nach ihrem Tod der Kirche, die es in den 70er-Jahren der Creditanstalt verkauft. Zwei Stunden durchwandert Templ die Naschmarktgegend, zeigt ein arisiertes Haus nach dem anderen und erzählt dessen Geschichte. Zum Beispiel auch jene der Apotheke "Am Naschmarkt". Im April 1938 zwingt der SS-Mann Otto Ehrmann den Besitzer Julius Becker, die Apotheke zu verlassen und ihm zu übergeben. Becker erschießt sich noch am selben Tag. Seine Witwe bekommt zwar nach 1945 die Apotheke zurück, muss aber den von SS-Mann Ehrmann angehäuften Schuldenberg mit übernehmen. Und weiter geht die Reise: Vorbei am Schikaneder-Kino - eines von zirka 80 Kinos, die "arisiert" wurden. "Da gab's über Nacht neue Apotheker oder Kinobetreiber", sagt Templ, während man den Naschmarkt kreuzt: Dort wurden etwa 300 Stände "arisiert", Rückstellung gab es keine, allerhöchstens Ersatzstände. Im Dezember wird Templ sich erneut auf Spurensuche begeben. Sein Ziel ist entweder nochmals die Naschmarktgegend oder aber die Porzellangasse im neunten Wiener Gemeindebezirk. Zu zeigen hat er noch genug. (Peter Mayr/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 11. 2002)