Wien - Antiamerikanismus, das ist ein großes Wort und ein scheinbar uferloses Phänomen, wenn man sich erst einmal daran gemacht hat, ihn gründlich zu erforschen. Für ein Montagsgespräch des STANDARD hatten sich im Wiener Haus der Musik vier Experten unter der Diskussionsleitung von Hans Rauscher aufs Podium begeben, um sich über die seit dem 11. September 2001 virulent gewordene Abneigung gegen die US-Politik im Allgemeinen und die der Regierung Bush im Besonderen zu unterhalten. Für Albert Rohan, Exgeneralsekretär des Außenministeriums, hat das Phänomen vier besonders erwähnenswerte Wurzeln: Der menschlichen Natur entsprechend spiele auch in der Staatenwelt ein Ressentiment des Schwachen gegen den Starken eine Rolle. Es sei darüber hinaus die von den Amerikanern betriebene Entkoppelung von nationalen und globalen Interessen, die - siehe Kioto-Protokoll - vor allem den Unwillen der Europäer hervorrufe. Drittens sei eine gewisse Doppelmoral in der US-Politik unübersehbar: Wenn es darum gehe, Menschenrechtsverletzungen zu geißeln, dann legten die USA sehr unterschiedliche Maßstäbe an, je nachdem, ob es sich nun um einen Freund oder Feind handelt. Viertens sei es die Rolle der USA als engste Verbündete Israels, die die Emotionen der arabischen Welt konstant hochgehen lasse und die ein besonders gefährliches Ausmaß annehmen könnten, wenn es zu einem US-Angriff gegen den Irak kommt. Dann nämlich, meint Rohan, würde sich der in der arabischen Welt vorhandene Widerwille gegen Saddam Hussein schnell verflüchtigen und einer Identifikation der Araber untereinander Platz machen. Die arabische Welt sei freilich nicht der einzige Ort, wo sich antiamerikanische Emotionen zusammenbrauen. Der Journalist Hanspeter Born (u. a. Weltwoche) wies darauf hin, dass deren tiefere Wurzeln vor allem auch im deutschen Sprachraum gelegen seien und teils bis tief ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichten. "Das hat mit der deutschen Geistesgeschichte zu tun, mit der Ablehnung der Aufklärung, mit der deutschen Romantik, mit einer Angst vor der Freiheit und dem Individualismus." Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder habe einen funktionstüchtigen Resonanzboden vorgefunden, als er im deutschen Wahlkampf auf dem antiamerikanischen Klavier spielte. Daniel Weygandt, der stellvertretende US-Botschafter in Wien, bat, nachdem er anfängliche Schwierigkeiten mit seinem Mikrofon überwunden hatte ("wahrscheinlich ein antiamerikanischer Anschlag"), um Verständnis für die Dilemmata der US-Regierung. Sie sei zur öffentlichen Diplomatie gezwungen und müsse sich gleichzeitig an das heimische Publikum und an die Weltöffentlichkeit wenden. Dabei seien Sprachebenen im Spiel, die oft einfach nicht mehr in Einklang zu bringen seien. Antiamerikanismus sei nichts Neues, meinte Weygandt, er habe aber mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das die Weltöffentlichkeit zum Handeln zwinge, "und dafür brauchen wir Partner". Weygandt wies im Übrigen darauf hin, dass die Europäer mit konservativen US-Präsidenten immer ihre Schwierigkeiten gehabt hätten - bei allem Respekt für die Ursachen, die in den politischen Überzeugungen der Europäer gelegen seien, erschiene ihm ein Umdenken nach dem 11. September aber doch angezeigt. Eric Frey, Chef vom Dienst des STANDARD, ging vor allem auf die Reaktionen der Bush-Regierung auf die Anschläge des 11. September ein. Frey meint, dass Bush nicht, wie oft behauptet, eine ähnliche Politik betreibe wie der israelische Premierminister Ariel Sharon, sondern eher mit einem von Sharons Vorgängern zu vergleichen sei: Wie Benjamin Netanjahu, dessen Bruder bei der Geiselbefreiungsaktion in Entebbe ums Leben kam, richte auch Bush sein ganzes Sinnen und Trachten auf den Kampf gegen den Terror. Dies sei zwar innenpolitisch verständlich, aber außenpolitisch riskant. Und: So schrecklich und leidvoll die Ereignisse des 11. September auch immer gewesen seien, das Leben von 99 Prozent aller Amerikaner und den inneren Zusammenhang der Gesellschaft hätte es nicht tangiert. Dem widersprach Hanspeter Born insofern, als er den traumatischen Effekt des 11. September noch über dem von Pearl Harbour ansetzte. Es gebe in Amerika und Europa sehr unterschiedliche Einschätzungen über das terroristische Gefahrenpotenzial - und nach dem 11. September könne sich kein US-Präsident den Luxus mehr leisten, auch nur ansatzweise zu dulden, dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Terroristen geraten. Albert Rohan meinte, aus US-Sicht sei es durchaus verständlich, dass sie die Entmachtung Saddam Husseins notfalls auch im Alleingang durchsetzen werden. "Sie haben das Potenzial, und sie werden das eben auch einsetzen." Europa laboriere an seiner eigenen Unentschlossenheit, und wenn es nicht bereit sei, militärisch zu den Amerikanern aufzuschließen, dann müsse es sich eben zwangsläufig mit seiner weltpolitischen Nebenrolle abfinden. In der Publikumsrunde wurde der Vorwurf laut, die Amerikaner spielten mit gezinkten Karten, wenn sie eine Attacke auf den Irak auch unter den Titel stellten, sie wollten der Demokratie zum Durchbruch verhelfen. Es gebe kein einziges islamisches Land - und schon gar kein arabisches -, in dem eine Demokratie westlichen Zuschnitts verwirklicht sei. Dem entgegnete Weygandt, dass die Araber nicht genetisch zu diktatorischen Regimes verdammt seien. Dass ein politischer Umschwung möglich sei, habe sich analog am Beispiel Lateinamerikas gezeigt. Vorhaltungen über politisch zwiespältige Unternehmen wie etwa die Unterstützung der Taliban gegen die Russen hielt Weygandt entgegen, dass es sich dabei um keine US-Spezialität handle: "Die Amerikaner haben die Doppelmoral nicht erfunden." (Christoph Winder/DER STANDARD, Printausgabe, 30.10.2002)