Wien - Bundespräsident Thomas Klestil hat anlässlich des
Nationalfeiertags Mahnungen an die im Wahlkampf befindlichen Parteien
erteilt: "Politik muss der Sorge um das Gemeinwohl entspringen, nicht
der Lust an der Macht", erklärte er in seiner traditionellen
Fernsehansprache. Zweiter Schwerpunkt der Klestil-Rede war ein klares
Bekenntnis zur EU-Erweiterung. Österreich müsse in dieser Frage mit
einer Stimme sprechen.
Wenn Österreichs Nachbarländer im Osten und Südosten der Union
beitreten, würden auch sie zu Partnern im bedeutendsten
Friedensprojekt der Geschichte Europas, meinte Klestil: "Umso
wichtiger ist es daher, dass unser Land aktiv, berechenbar und
solidarisch am Bau eines gemeinsamen Europa mitwirkt". Dies erfordere
Offenheit und Kompetenz. Denn niemand werde ein Land ernst nehmen,
das mit mehreren Stimmen spreche: "Einigkeit, Klarheit und
Verlässlichkeit sind dabei unverzichtbar, wenn es um das Bild
Österreichs in Europa und der Welt geht".
Politisches Kalkül
Der Bundespräsident erinnerte daran, dass das Land in der Phase
des Wiederaufbaus von großem Idealismus getragen worden sei und das
Gemeinsame über das Trennende gestellt wurde. Dieser noch heute
gültige demokratische Grundkonsens, der die Basis für einen
respektvollen und ehrlichen Umgang miteinander bilde, dürfe "nicht
dem politischen Kalkül geopfert werden". Wer ein öffentliches Amt
innehabe, müsse wissen, dass er in erster Linie dem Gemeinwohl
verpflichtet sei und nicht einer Partei und dem eigenen Machterhalt.
Wer Macht ausübe, übernehme Verantwortung - "je mehr Macht, desto
mehr Verantwortung", betonte Klestil. Daher brauche Österreich eine
"Allianz der Mutigen und Aufrechten", damit man sicher sein könne,
dass politisches Handeln auch tatsächlich dem Gemeinwohl zu Gute
komme. Die sozial Schwachen, die Älteren, aber auch die jungen
Menschen, die in Ausbildung stünden oder auf der Suche nach einem
Arbeitsplatz seien, hätten ein Recht darauf, von der Gesellschaft
nicht allein gelassen zu werden.
Weiters appellierte der Bundespräsident, "die Kultur des Wortes"
zu fördern. Dies gelte für alle Menschen, besonders für jene, "die
das Wort als Werkzeug, wenn nicht gar als Waffe verwenden". Gerade
hier dürfe der Wettstreit der Ideen nicht zu einem Rachefeldzug
werden. Die freie Meinungsäußerung sei eine der unerlässlichen
Stützen des Rechtsstaates, sie dürfe aber nicht zur
"Beleidigungsfreiheit verkommen". (APA)
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