Richard Yates,
Zeiten des Aufruhrs.
Aus dem englischen von Hans Wolf.
EURO 25,60/
376 Seiten.
DVA,
München 2002

Foto: DVA
Große Bücher haben neben all den anderen Vorteilen guter Literatur manchmal auch die wunderbare Eigenschaft, dass sich die ganze Breite und Kraft des Erzählten auf ein einziges Wort bringen lässt. Bei Yates Zeiten des Aufruhrs ist dies nun das intime Wörtchen "eigentlich". Ein hässliches Wort, fraglos, ein Un-Wort, das in der Hinterkammer der Eitelkeit haust, Wahrheit heischt, wo nur Betrug zu finden ist und leichtfertig auf eine zweite Realität verweist, wo die erste ein wenig zu glanzlos geworden ist. So macht es auch einige Mühe, den Protagonisten von Yates Kultroman aus den Sechzigerjahren vorzustellen. Denn alles, was der 29-jährige Kriegsveteran Frank Wheeler wäre, ist er eigentlich nicht. Er arbeitet im Großraumbüro einer beliebigen Großfirma in New York und ist eigentlich kein kleiner Angestellter, sondern Großintellektueller; verheiratet mit der Hausfrau April - eigentlich eine Schauspielerin - sieht er sich doch als Frauenheld, hat zwei Kinder, ist aber ein "ernster, nikotinfleckiger Jean-Paul-Sartre-Typ", der mit Kindern nichts anzufangen weiß; er lebt in der Vorstadt in einem appetitlichen kleinen Haus mit Garten und kann dabei stundenlang seine Frau April mit dem Strick aus Gerede würgen, den er sich aus Galle und Scharfsinn gesponnen hat gegen die amerikanische "Vorstadtlösung" - wie es Yates-Liebhaber so schön auf den Punkt bringen. "Es ist, als wären sich alle stillschweigend darüber einig, in einem Zustand totalen Selbstbetrugs zu leben" sagt er, nippt an seinem Whiskey und schaut in den Garten. Natürlich, Frank Wheeler muss scheitern. Das riecht man von Anfang an. Das Unerhörte dabei ist, dass Frank Wheeler in seiner Zeitkritik immer den Punkt trifft. Dass Richard Yates also gerade denjenigen an der Lebenslüge seiner kleinlichen Intellektualität so meisterhaft zu Grunde richtet, dem diese Intellektualität gerade ausreicht, um all den Selbstbetrug auch wirklich zu durchschauen. Das macht aus dem Untergang einer beliebigen Figur schon die totale Demontage des Menschen überhaupt. Und noch eines: Wenn unsere Zeit - und "unsere Zeit" begann in den Fünfzigerjahren in Amerika - sich so gründlich und glaubhaft von dem aufgeblasenen Geschwätz eines Vorstadtintellektuellen aus den Angeln heben lässt, dann ist gegen die Krankheit unserer Zeit kein heiliges Kraut gewachsen. Dann nämlich gehört der Entlarvungsgestus mit zu den Schutzmechanismen der Selbstmanipulation, und es wird klar, inwieweit die Parole "Alles Lebenslüge!" Treibmittel ist für einen viel umfassenderen Selbstbetrug. Aber Yates geht erst einmal alles sehr ruhig an. In koketter Leichtfertigkeit führt er uns eine Ehe vor. Die jungen Leute haben Hoffnungen. Da scheint nichts dabei. Die jungen Leute haben Träume und wollen über sich hinaus. Und weil das alles in allem ein wenig unerträglich ist, beginnt Frank eine ehrgeizige kleine Liebelei mit der Sekretärin Maureen Grube. April wiederum wagt etwas weitaus Gefährlicheres: weil sie langsam alt und ungeduldig wird in ihrer verzweifelten Eitelkeit, weil das Leben mies und mittelmäßig ist in der Vorstadt, beginnt sie, die Träume ihres Mannes beim Wort zu nehmen und plant den endgültigen Umzug nach Europa. Dabei merkt sie nicht, dass ihre nervös rüttelnde Befreiungsbewegung sie nur noch tiefer in den Sumpf der Bürgerlichkeit hineindrückt. Der vorstädtische Alltag verführt und beherrscht, indem er sich selbst unausgesetzt als trivial ausgibt. Das ist seine bis heute unüberwundene Macht. Das schwerste ist, einzusehen, dass das Haus, der Job, die Familie große Ideen sind und dass derjenige, der sie trivial nennt, den Schmeicheleien des Alltags schon auf den Leim gegangen ist. Dieser Einsicht verdankt sich nun die unerhörte Integrität von Yates Erzählhaltung. Wenn er auch wie kein anderer seine Figuren hinrichtet, so verrät er sie doch nicht. Er hat den heute in Frankreich wieder Mode gewordenen Handstreich, sich an der Jämmerlichkeit der eigenen Figuren aufzurichten, gerade deshalb nicht nötig, weil er diesen Gestus seinen Figuren selbst überlässt, und weil diese Figuren in ihrer Mittelmäßigkeit doch an Wesentlichem scheitern. Das Unwesentliche gibt es überhaupt nicht. In Amerika ist Yates ein moderner Klassiker. Zumindest Raymond Carver und Richard Ford erklärten ihn zu ihrem Vorbild. Dass er in der alten Welt so herzlich unbekannt ist, spricht jedenfalls gegen uns. Es ist merkwürdig, wie sehr wir dazu neigen, Amerika und seine große intellektuelle Tradition zu unterschätzen und gerne vergessen, dass der Kern des europäischen Anti-Amerikanismus selbst amerikanischen Ursprungs ist. Yates Schreiben ist dazu so wunderbar, dass es einen in Verlegenheit bringt, Dummheiten zu sagen: denn seine Sprache wogt wirklich in feinstem Gewebe über Seiten hin, alles schlicht und gleichzeitig filigran. Die Klangwelt, die Yates über uns hinzaubert, hat, das muss gesagt sein, Schubertsche Qualitäten. Denn wenn auch im Rückblick alles von fiebrigen Assoziationen schwärt, so erscheint es beim Lesen erst einmal heiter und fröhlich. Ein Frohsinn der sich letztlich als apokalyptische Distanz herausstellt. Ein gemeines, hinterhältiges Buch also. Ein Buch das man schmunzelnd zu Ende liest und dann erst merkt, dass man - immer noch lächelnd - eigentlich schon verzweifelt ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26./27.10.2002)