Aus dem ALBUM: Obwohl der Rückkehr der Waffen- inspektoren grundsätzlich zugestimmt wird, sind die USA entschlossen, einen Krieg zu führen
Redaktion
,
Die Bush-Regierung hat die
bedingungslose Kapitulation
des Regimes von Saddam
Hussein beschlossen. Der bevorstehende Feldzug gegen
den Irak erinnert an den "angekündigten Tod" in dem berühmten Roman von Gabriel
García Márquez. Doch könnte
sich das Ende dieses Regimes
als außerordentlich kostspielig erweisen oder gar in ein
Chaos führen. Denn wir haben
es mit einem einzigartigen
politischen System zu tun, das
schon schwere Schläge über
standen hat, etwa seinen er
folglosen Krieg gegen den Iran (1980 -1988) und die
schmähliche militärische
Niederlage von 1991, nach der
Invasion in Kuwait.
Die Langlebigkeit dieses Regimes ist kein Zufall, sondern
das Ergebnis einer sorgfältig
geplanten und erstaunlich
komplexen Machtstrategie.
Saddam Hussein war in jungen Jahren ein Bewunderer
Hitlers, eine Neigung, die er
von seinem Onkel mütterlicherseits, Chairallah Tilfah,
geerbt hat. Später geriet er unter kommunistischen Einfluss
und nahm Stalin in die Galerie
seiner Vorbilder auf. Das von
Saddam errichtete System
orientiert sich also an diesem
Erbe, trägt aber auch originäre
Züge. In Anlehnung an das nationalsozialistische Vorbild
ruht das System der Baath-
Partei im Irak auf vier Pfeilern:
einer totalitär ausgerichteten
Ideologie, einer Einheitspartei, der Kontrolle der - als sozialistisch bezeichneten -
Wirtschaft und der Kontrolle
der Medien und der Armee. Im
Unterschied zum NS-Modell
formte die Baath-Partei die
traditionellen sozialen Institutionen der Stämme und Clans,
die nur noch in den Randregionen, in der Provinz und auf
dem Lande Einfluss hatten, zu
tragenden Säulen des Staates
um. Drei strategische Posten
waren prinzipiell dem führenden Clan vorbehalten: das
Amt des Verteidigungsministers, des Chefs des Militärbüros der Partei, (al-Maktab al-
Askari), und des Chefs des Büros für nationale Sicherheit
(Maktab al-Amn al-Qaumi).
Nach dem Machtantritt des
Regimes 1968 dominierte für
etliche Jahre ein staatlicher
Tribalismus. Jedoch blieb dieser auf die Albu Nasir begrenzt, den Stamm der herrschenden Elite, dessen harter
Kern der Clan al-Beijat ist. Im
Laufe der Jahre wurden dann
aber weitere, zweitrangige
Stammesfraktionen in das
System eingebunden. Im Zuge
dieser Entwicklung entstand
eine Strategie der Angst, die
darauf zielte, die Machtbasis
abzusichern, eine Herrschaftselite aufzubauen und
Spaltungen und Machtkämpfe
zu unterdrücken, die zwischen 1958 und 1970 die Armee und das Parteiensystem
belastet hatten.
Die Einnahmen aus der
Erdölproduktion sind ein weiterer Grundstein des von der
Baath-Partei errichteten totalitären Systems. Die umfangreichen Erdölreserven des Landes ermöglichten einen beträchtlichen Ausbau des öffentlichen Dienstes wie auch
diverser sozialer Errungenschaften. Die westlich orientierten Mittelschichten, die
durch den Ölboom nach dem
Oktoberkrieg 1973 reich geworden waren, sahen rosigen
Zeiten entgegen. Ironischer
weise konnte die Oberschicht
ausgerechnet unter den Beschränkungen einer Planwirtschaft ihren Besitz in unerhörtem Ausmaß mehren. So gab
es etwa 1968 bereits 53 Dinar-Millionäre (1 Dinar war da
mals 3,10 US-Dollar wert),
1980 waren es schon 80 und
1989 über 3000.
Aber die neuen sozialen
Kräfte, Angestellte und
Grundbesitzer, Mittel- und
Oberschichten verdankten ihren Wohlstand nicht einem liberalen System, sondern aus
schließlich staatlichen Posten
oder Aufträgen. Innerhalb der
Staatsmacht und der aufsteigenden Schichten hatten die
Stammes- oder Familiengruppen die entscheidenden Positionen inne. Diese Verbindung von Klasse und Clan dominierte Armee, Partei, Bürokratie und Wirtschaft. Sie
wurde durch ideologische
und wirtschaftliche Interessen, durch arrangierte Heiraten und durch den tiefen
Glauben an die Clanordnung
zusammengehalten. Daran
änderten auch all die offiziellen Reden gegen den so genannten Tribalismus nichts.
Das Spezifikum des irakischen totalitären Systems besteht also in dem Amalgam
aus modernen und traditionellen Elementen. Es soll so
wohl die Strukturen der
Macht als auch die unruhigen
Massen dieser multiethnischen Gesellschaft kontrollieren, die eine große kurdische
Minderheit umfasst und deren
arabische Mehrheit in Sunniten und Schiiten zerfällt. Dieses spezifische Amalgam ist
der entscheidende Grund für
die Langlebigkeit des Regimes
- zugleich aber auch dessen
Achillesferse.
In Hinblick auf den Zusammenhalt der herrschen
den Elite und deren Einfluss auf die Schalthebel der Macht
unterscheidet sich das Baath-Regime von seinen Vorgängern, dem Regime des Gene
als Abdelkarim Kassem (1958 - 1963), dessen Staatsstreich
die Monarchie beseitigte, wie dem des Brigadegenerals Abdelsalam Aref (1963 - 1968),
der sich auf die Armee wie
auch auf verwandtschaftliche
Bande gestützt hatte (Dschumailat-Clan). Doch diese bei
den Regime hatten es nicht geschafft, ihre Macht zu stabilisieren. Die Baath-Partei er
gänzte die Grundformel Armee plus Stammessolidarität
durch neue Elemente.
Es dauerte lange, bis diese
komplexe Mischung sich etabliert hatte, weil die einzelnen
Systemkomponenten in sich
widersprüchlich waren. Da
waren zum einen die Normen
eines modernen Parteiwesens,
auf die sich die Baath-Partei
mit ihrem arabisch-nationalistischen und sozialistischen
Selbstverständnis bezieht.
Solche Normen können freilich nicht vor internen Spaltungen schützen, vor allem
aber stehen sie im Widerspruch zu den Prinzipien von
tribaler Bindung und Solidarität. In den ersten Jahren des
Regimes herrschte noch eine
fragile Koexistenz zwischen
dem zivilen und dem militärischen Flügel der Partei, bis das
Militär schließlich in die Kasernen verbannt wurde. Doch
auch die Clanstrukturen wurden von Rivalitäten und blutigen Intrigen um Macht und
Reichtum zerrissen, sie sicherten allerdings auch einen
gewissen Zusammenhalt. Der
laizistische Nationalismus
spielte im traditionellen Diskurs der führenden Stamm
eseliten keine Rolle, aber dennoch fand der Arabismus am
Ende Eingang in den Kodex der Stammeswerte.
Da die Gewinne aus der Ölproduktion ständigen
Schwankungen unterlagen, griff das Regime auch auf primitive Formen der ökonomischen Kontrolle zurück. Als sich das regionale und globale Umfeld, das den arabischen
Nationalismus gestärkt hatte veränderte - vor allem nach
der Niederlage Ägyptens, Syriens und Jordaniens im Juni
1967 -, war der irakische Nationalismus berufen, die Lücke zu schließen. Der Versuch, diese sozialen Kräfte und widersprüchlichen Ideologien gewaltsam zu verschmelzen, führte zwar zu
Auseinandersetzungen, konnte aber am Ende eine gewisse Koexistenz herbeiführen.
Wann immer eine neue Krise ausbrach, wurden Reformen verabschiedet, die das
gestörte Gleichgewicht wieder herstellen sollten. Präsident
Saddam Hussein wurde zum
großen Meister dieses Spiels
der flexiblen, ständig erneuerten Feinanpassungen. Der
Krieg zwischen Irak und Iran und danach der Golfkrieg er
zwangen eine unablässige
ideologische Umstrukturierung. So wurde während der
qualvolle acht Jahre dauernden Konfrontation mit der
"islamischen Revolution" die Religion politisch instrumentalisiert: Das Hauptproblem Bagdads war in dieser Zeit, wie das Regime den schiitischen Teil der arabischen Bevölkerung niederhalten konnte und wie sich die Schiiten gegenüber der islamischen Republik von Ajatollah Chomeini verhalten würden. Da der Staat durch den anhaltenden Konflikt geschwächt war, verlor er die
Kontrolle über zahlreiche
Stämme. Die Folge war ein
Erstarken des Tribalismus.
Der Krieg verschlang Währungsreserven in Höhe von 38
Milliarden Dollar und hinterließ nahezu 50 Milliarden
Dollar Schulden. In der Armee
mit ihren damals eine Million
Mann regte sich Aufruhr. Die
Kriegsgeneration hoffte auf
die Rückkehr in ein komfortables Zivilleben, wie sie es
vor dem Krieg gekannt hatte.
Die Soldaten drohten der Kontrolle zu entgleiten. Die
Machtstrukturen und die sozialen Ausgleichsmechanismen funktonierten nicht mehr
richtig. In diesem Zusammenhang ist die Kuwait-Invasion vom 2. August 1990 zu
sehen, deren Ziel es in aller erster Linie war, die innere
Stabilität wiederherzustellen.
Die Niederlage von 1991 hatte eine chronische strukturelle Krise in mindestens fünf
Bereichen zur Folge. Da ist
erstens die staatliche Ebene,
deren Regierungsfähigkeit
ernsthaft geschwächt wurde.
Der Militärapparat wurde auf
etwa ein Drittel seiner Vor
kriegsstärke gestutzt und
musste lokale Aufstände bekämpfen, vor allem in Kurdistan im Norden und in den
schiitischen Gebieten im Süden, wo überdies auch noch
amerikanisch-britische Flugverbotszonen errichtet waren.
Besonders starke Verluste erlitten die Sicherheitskräfte
beim Aufstand 1991, der sehr viel Material und viele qualifizierte Mitarbeiter kostete.
Zweitens wurde parallel dazu
das ideologische Kontrollsystem geschwächt, die Strukturen der Baath-Partei. Die Mitgliederzahl von 1.800. 000 aus dem Jahr 1990 war bis zum 10. Parteikongress 1991 um 40
Prozent gesunken. Dieser
Rückgang hat sich seitdem
fortgesetzt und ist besonders
spürbar im Süden des Landes
(in Städten wie Basra und Na
sirija), aber auch in der Zen
tralregion (Hilla, Nadschaf
und Karbala) und in Bagdad.
Das schwächte die Möglichkeiten der Baath-Partei, den
Staat zu leiten und die Gesellschaft zu
kontrollieren. Drittens beraubten die Sanktionen die Regierung der immensen Erdöleinkünfte früherer Jahre. Die Folge war ein Sinken des Bruttosozialprodukts um über 75
Prozent im Vergleich zu 1982.
Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen, das damals 4219
Dollar betragen hatte, fiel 1993
auf 485 Dollar, heute wird es
auf etwas mehr als 300 Dollar
geschätzt. Aus Geldmangel
erhöhte der Staat die Steuern
und setzte die Notenpresse in
Gang. Das Regime büßte also
weitgehend die Fähigkeit ein,
sich mittels sozialer Leistungen und ökonomischer Subventionen die Unterstützung
breiter Gesellschaftsschichten
zu sichern. Damit bildete sich
ein neues Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
heraus, in dem der Staat nicht
mehr über das Machtmonopol
Geld verfügt. Die auf die Öl
einnahmen gestützte Planwirtschaft wurde brüchig. Die
Marktkräfte untergruben, obwohl noch kaum entwickelt,
bereits die Staatsmacht. Die
vierte Krisendimension ist der
Niedergang innerhalb der
Schicht der mittleren Angestellten, bis dato die Haupt
stütze der Baath-Partei. Die
Hyperinflation ließ diese
Schicht verarmen, die sich
heute mit extrem bescheidenen Einkünften begnügen
muss. Der irakische Dinar war
vor dem Krieg noch 3,10 Dollar wert gewesen, 1996 musste
man für einen Dollar bereits
3000 Dinar hinlegen. Seitdem
schwankte der Wechselkurs zwischen 2000 und 12 000 Dinar, um sich schließlich bei
etwa 2000 zu stabilisieren. Die
Menschen sind zum Überleben darauf angewiesen, ihre
Kleidung, ihre Möbel, ihre
Bücher, ihren Schmuck und
selbst Gegenstände des täglichen Lebens zu verkaufen.
Zwei Millionen Iraker sind
nach Jordanien oder nach Europa und in die USA emigriert.
Diese Mittelschichten haben
jede Illusion verloren. Sogar
der offizielle Ideologe und
Propagandist der Baath-Partei,
General Dschabar Muhsin,
verdrückte öffentlich eine
Träne über das Schicksal "der
Mittelschichten, die wir verloren haben"
Der fünfte und letzte
Schwachpunkt: Die "revolutionäre Legitimität" - Rechtfertigung für die Existenz von
Einheitspartei und Staatswirtschaft - hat mit der europäischen Wende 1989 und dem
Untergang der UdSSR einen
schweren Schlag erlitten, von
den Auswirkungen der vorsichtigen Liberalisierung im
Nahen Osten ganz zu schweigen. Die verheerenden Folgen
zweier Kriege haben dazu geführt, dass Volkspatriotismus
und offizielle nationale Propaganda nicht mehr übereinstimmen und es seit den blutig
niedergeschlagenen Aufständen im Frühjahr 1991 eine
breite Opposition gibt. Infolge
des Waffenstillstands und der
Resolutionen des Sicherheitsrates unterliegt das Regime
beispiellosen Beschränkungen und Behinderungen. All
das trug dazu bei, den Einfluss
der herrschenden Elite auf die
Machtstruktur zu schwächen.
Hinzu kam, dass der Staat
selbst zu wenig Kraft hatte, um
die unruhigen städtischen
Massen, so gespalten sie auch
waren, effektiv zu regieren.
Spaltungen waren unvermeidlich, und sie gingen mitten durch das führende Haus,
nämlich das der al-Madschid.
Armee und Partei erlitten
einen gravierenden Aderlass.
Über 1500 höhere und mittlere Offiziere flohen in den Westen. Viele Parteikommissare
beantragten im Ausland Asyl.
Diesen unerhörten Verlusten
versuchte das Regime mit einem Zehnjahresplan zu begegnen, der in fünf Punkten
eine Überlebensstrategie formulierte: Wiederherstellung
der Ordnung im Haus deswichtigsten Stammes; Restrukturierung der Armee;
Stärkung der Stämme im ganzen Land als Ersatz für die Parteiorganisation; Modernisierung des ideologischen Rüstzeugs; Einführung neuer ökonomischer Kontrollinstrumente. Die entscheidende
Niederlage erlitt das Regime
bei dem Versuch, innerhalb
des Clans, der die Macht innehat, wieder Ordnung zu
schaffen und die Frage der
Nachfolge zu regeln. Der Tribalismus an der Spitze des
Staats beruhte auf breiten
sunnitischen Clan-Allianzen
um den Beijat-Clan. Dieser bestand aus zehn Gruppen (afchad). Vor 1968 drehten sich
die Rivalitäten zwischen diesen Gruppen um die traditionelle lokale Macht. Seit 1978
kämpften sie dagegen um die
Macht im Staat. Ungeachtet
aller Solidaritätsappelle verschob sich das Zentrum der
Macht mit großer Brutalität
von einer Gruppe auf die andere und brachte dabei die Beziehungen der Clans zu Partei
und Staat durcheinander. Sieben der zehn Subclans wurden hart geschlagen - das löste
Kettenreaktionen aus. Die
Machtergreifung Saddam
Husseins - er ersetzte 1979
Hassan al-Bakr, hatte jedoch
real seit langem die eigentliche Macht ausgeübt - bewirkte einen Bedeutungsverlustdes Clans, dem Hassan al-Bakr
entstammte. An dessen Stelle
trat der Albu-Gafur-Clan, dem
Saddam Hussein angehört.
Ein ähnliches Schicksal ereilte die Takriti.
In den Achtzigerjahren
stützte sich Saddam Hussein
hauptsächlich auf drei Gruppen seiner Verwandtschaft:
auf seine drei Halbbrüder (Albu Chattab), auf seinen Cousin
mütterlicherseits und zugleich Schwager, den ehemaligen Verteidigungsminister
Adnan Chairullah Tilfah (Albu Mussallat) und auf Mitglieder des Hauses al-Madschid, das zum Subclan Gafur gehört. Weitere Unterclans
wie die Albu Hassa des Generals Omar Hassa, die Albu Nadscham des Generals Fadhil Barrak od er die Albu Monim des Generals Mahir Raschid hatten zwar wichtige,
aber keine Schlüsselpositionen inne. Diese drei Unterclans fielen während oder
nach dem Krieg mit dem Iran in Ungnade: Ihre Chefs wurden exekutiert, der Clan marginalisiert. Der Aufstieg der al-Madschid in den Neunziger
jahren machte die größten
Probleme, widersprach er
doch grundlegenden, für Partei und Armee geltenden Regeln: Effizienz, Dienstalter,
Beförderung nach dem Anciennitätsprinzip.
Hussein Kamel, Saddam
Kamel (beide mit Töchtern des
Präsidenten verheiratet) und
Ali Hasan al-Madschid kontrollierten die Rüstungsindustrie, die Spezialeinheiten
und das Verteidigungsministerium. Sie hatten Cousins in
wichtigen Positionen, etwa Rokan, den Adjutanten des
Präsidenten. Mit dem Aufstieg
der beiden Saddam-Söhne
Udai und Qusai erlitt das Haus
al-Madschid einen Vertrauensverlust. Der Konflikt kulminierte 1995, als Hussein
und Saddam Kamel nach Jordanien flüchteten. 1996 wurden sie nach ihrer Rückkehr in
den Irak hingerichtet, mit ihnen ihr Vater, ihre Mutter und
ihre Schwester. Das blutige Geschehen erschütterte das
Haus al-Madschid in den Grundfesten und brachte auch
den Präsidenten in Schwierigkeiten. Saddam Hussein
wandte sich von seinem inneren Zirkel, der aus Al-Mad
schid-Leuten bestand, ab und stützte sich fortan stärker auf
seinen eigenen Subclan, die Albu Gafur, die zum Stamm
der Albu Sultan gehören. Kamal Mustafa (wichtigster
Mann der Albu Sultan und
Cousin väterlicherseits des
Präsidenten) wurde die republikanische Nationalgarde an
vertraut, die mit zwei kompletten Armeekorps die Prätorianergarde des Regimes stellt.
Sein Bruder Dschamal wurde
mit der jüngsten Tochter des
Präsidenten verheiratet.
Es gibt berechtigten Grund
zu der Annahme, dass die Be
ziehungen zwischen den bei
den Clans Albu Gafur und Albu Sultan ebenso gespannt
sind wie die zwischen den
beiden Söhnen des Präsidenten. Qusai wurde vom Vater
zum Nachfolger bestimmt. Er
erhielt die Aufgabe, den Geheimdienst und die innere Sicherheit zu reorganisieren; im
Jahre 2000 wurde er ermächtigt, im Notfall die Interimspräsidentschaft zu übernehmen. Davor war Qusai zum Inspektor der "Armee der Mutter
aller Schlachten" (inzwischen
"Republikanische Armee")
ernannt worden. Im April
2001 wurde er in die regionale
Führung der Partei gewählt.
Damit entstand ein neuer har
ter Kern, allerdings um zwei
Männer: Qusai und Kamal
Mustafa. Der Staatstribalismus, der als Transmissionsriemen zwischen Stämmen
und Staatsapparat funktionieren soll, um die Herrschaft einer fragilen und verletzbaren
Elite zu sichern, ist zwar noch
intakt, aber ziemlich alters
schwach. Der gesellschaftliche Tribalismus dagegen er
fährt eine Wiederbelebung,
manipuliert die Stammesstrukturen oder erfindet sie
neu mittels der paternalistischen Werte, die ländliche
Migranten und die Bewohner
der Provinzstädte hochhalten.
Die Baath-Partei entdeckte und benutzte auch den militärischen Tribalismus, der innerhalb der kurdischen Bevölkerung fortbesteht: Die
Stammeschefs (Agas) der Sorchi, Mesuri, Doski und Herki
wurden seit 1974 als Söldner
rekrutiert, um den kurdischen
Nationalismus zu bekämpfen.
Während des Krieges gegen
den Iran entdeckte das Regime
auch die Vitalität der arabischen Stämme des Südens,
die gegen die iranischen Soldaten kämpften und seitdem
von der Zentralgewalt umworben werden. Demselben
Muster entspricht auch der
soziale Aufstieg der Stammesnotabeln seit dem Ende der
Achtzigerjahre, der vor allem
mit dem Niedergang ziviler
Verbände moderner Prägung
zusammenhing.
Je mehr die Parteiorganisation geschwächt wurde, desto
mehr konnten Strukturen primärer Solidarität an ihre
Stelle treten. So übernahmen
die alten Familien - von der
Regierung ermuntert - die
Verantwortung für die öffentliche Ordnung. Überall ging
man daran, die Stammesbeziehungen - fiktiv oder real -
wieder herzustellen. 1992
empfing der Präsident die
Stammeschefs in seinem Palais, entschuldigte sich für die
früheren Agrarreformen und
versprach Versöhnung. Die
Clanchefs hissten ihre Fahnen
und schworen den Treueid
auf den Präsidenten, der so
zum Chef der Chefs wurde.
Die Stämme wurden vom Militärdienst entbunden und er
hielten leichte Waffen, Transport- und Kommunikations
mittel. Die großen Stämme,
hauptsächlich Sunniten, hatten die Aufgabe, für die nationale Sicherheit zu sorgen. Die
kleinen Stämme bekamen auf der lokalen Ebene die Verantwortung für Polizei, Justiz, das
Regeln von Streitfällen sowie
für die Erhebung von Steuern
übertragen. Über die Stämme
wurde das staatliche Räderwerk auf das flache Land aus
geweitet. Mit anderen Worten:
Die Renaissance der Stämme
als soziale Akteure entstand
aus der Notwendigkeit, das
Vakuum zu füllen, das durch
die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Institutionen und
durch den Niedergang des
Staates entstanden war. Eines
Staates, der die Hoheit über
Sicherheit und Justiz und
den Schutz von Leben und Besitz nicht mehr gewährleisten konnte.
Die Stammesstrukturen, die
jetzt reanimiert oder neu
konstituiert wurden, funktionierten nicht in ihrem ursprünglichen Umfeld auf dem
Lande, sondern in den Städten. Das hatte zur Folge, dass
die Struktur der urbanen und
kultivierten Gesellschaft weiter brüchig wurde. Beide Strategien (Staatstribalismus und
sozialer Tribalismus) fungieren als Mittel der Mobilisierung und der Kontrolle. Dabei
findet zugleich eine ideologische Erneuerung statt. Der
irakische Patriotismus, mit
seinem Bezug auf die alte babylonische Geschichte, verbindet sich mit dem arabischen Patriotismus und will die nichtarabischen Ethnien
einbeziehen. Die Ideologie der
Verwandtschaft, die das Prinzip der Abstammung verherrlicht - der tribale Ansatz par
excellence - wurde von den
Propagandisten der Partei
zum Kern des Arabismus gemacht: Ohne seine Abstammungslinien macht der arabi
sche Nationalismus keinen
Sinn. Der Wahhabismus, die
saudisch-hanbalitische Orthodoxie, sickert unter den
nachsichtigen Augen der Sicherheitskräfte über die
durchlässige Südgrenze ein.
Diese religiöse Ideologie wird
als wünschenswertes Gegengewicht zum militanten Schiismus wahrgenommen. Und
noch ein Faktor hat dem Re
gime bislang das Überleben
gesichert: die Sanktionen. Das
Regime kontrolliert das Pro
gramm "Öl für Nahrungsmit
tel".
Die Rationierung der für die
Ölerlöse importierten Lebensmittel erfolgt über Bezugsscheine, die längst der
Manipulation und der Mobilisierung dienen. 1995 musste
jeder, der in den Genuss von
Bezugsscheinen kommen
wollte, an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen.
Dissidenten oder Leuten, die
man dafür hielt, wurden sie
verweigert. Nie zuvor hat das
Regime ein so wirksames soziales Kontrollinstrument besessen. Man kann diese Strategie als "Politik des Hungers" bezeichnen.
Die Unterstützung der
Oberschicht versucht man mit
einem anderen Mittel zu erreichen: der Deregulierung
des Marktes. In Bagdad
schmeißen die alten und die
neuen Reichen in den In-Lokalen jeden Abend extravagante Feste, neben denen die
legendären Gelage aus Tausendundeiner Nacht verblassen. Diese Mischung aus Nationalismus, Patriotismus, Tribalismus und Sunnismus
hat es den Herrschenden ermöglicht, zu überleben und -
zumindest bis heute - alle
Hindernisse zu überwinden.
Im Falle einer Invasion des
Irak durch die Vereinigten
Staaten lässt sich aber keine
Vorhersage machen, was diese
politische Hinterlassenschaft
für die Zukunft des Landes
bedeutet. (ALBUM-DER STANDARD, Printausgabe, 25./26./27.10.2002)
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