Bereits an ihrem ersten Arbeitstag bekam Deutschlands rot-grüne Regierung ihr Zeugnis präsentiert. Die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute stellten am Dienstag den finanz- und steuerpolitischen Vorhaben der Regierung vernichtende Zensuren aus. Nach Ansicht der Ökonomen sind die Vorschläge der Koalition Gift für die Konjunktur. Die Anhebungen der Steuern und Abgaben führten dazu, dass das Wachstum im kommenden Jahr um 0,5 Prozent geringer ausfällt. Deutschland schrammt durch den Sparkurs der Regierung, der auch drastische Einschnitte bei den Ausgaben vorsieht, nur knapp an der Rezession vorbei. Der Aufschwung lässt damit noch länger auf sich warten.Diese ungewöhnlich harsche Kritik sollte dem neuen Kabinett zu denken geben, zumal sie differenziert ausfällt. Daran, dass das Wirtschaftswachstum heuer noch geringer sein wird, als im Frühjahr prognostiziert wurde, geben die Wirtschaftsexperten der alten - und neuen - Regierung keine Schuld. Sie sehen den Grund in der weiterhin anhaltend schwierigen Lage der Weltwirtschaft. Die künftigen Probleme sind indes hausgemacht. Da wird sich das Kabinett Schröder II nicht mehr auf die Entwicklung der US-Konjunktur herausreden können. Zu denken geben sollte der Regierung Schröder auch die Expertenmeinung über die Vorschläge der Hartz-Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes, wonach diese "überbewertet" würden. Die Hartz-Vorschläge seien kein Allheilmittel gegen die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, weitergehende Reformen, auch der Sozialversicherungssysteme, seien notwendig. Solche Vorhaben spart der Koalitionsvertrag aber aus. Rot-Grün hat eine zweite Chance bekommen, kann aber keine Schonfrist mehr in Anspruch nehmen. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.10.2002)