Wien - Zweifellos ist das "Philharmonische" im Goldenen Saal des Musikvereins um 11 Uhr Vormittag eine der zentralen Stationen im Ordinarium des gehobenen Wiener Sonntagsrituals. Während eines solchen festlichen Hors d'oeuvre zum in Bälde winkenden Mittagsmahl ist es dann schon fast egal, wer was wie dirigiert. Künstlerische Qualität und Intensität sind natürlich kein Nachteil. Ganz im Gegenteil, man weiß sie sehr wohl zu honorieren.

Wie etwa am Sonntag: Da brach nach dem letzten Akkordknall von Tschaikowskys vierter Symphonie ein (berechtigter) Jubel aus, wie er nach einem Sieg Österreichs über Holland kaum stürmischer hätte ausfallen können. Was es wiegt, das hat es: Valery Gergiev hat die Philharmoniker zweifellos besser trainiert als Hans Krankl seine Mannschaft. Und dieser philharmonische Sieg konnte sich hören lassen. Sieg über wen eigentlich? Über niemanden. Sondern - das Schönste, was man über eine Interpretation sagen kann - ein Sieg für den Komponisten.

Einen Sieg, könnte man sagen, hat Tschaikowsky ja wohl nicht mehr nötig. Und seine Vierte schon gar nicht. Einspruch! Auf solche Weise können ein Komponist und ein Werk nicht oft genug siegen: Diese Vierte wurde hier, wenn schon nicht neu er-, so doch neu gefunden. Was Gergiev da präsentierte, war donnerndes, aber trotzdem kammermusikalisches symphonisches Musiktheater.

Gergiev filetiert das Werk in unzählige kleine Dramolette - bald zwischen Fagott und Klarinette, bald zwischen Blech und Streichern, bald zwischen Trompete und allen Übrigen, und bringt dennoch das Wunder zustande, dass alles in einem großen, emotionalen Zusammenhang steht.

Der Vorzug dieser Technik besteht in der (ganz und gar nicht analytischen und besserwisserischen) Freilegung von Details, durch die die Zusammengehörigkeit der einzelnen Elemente nicht verstört, sondern eher noch verdichtet wird. Zur völligen Verblüffung gelingt ihm dies, emsig in der Partitur blätternd und mit der Gebärdensprache eines in autistischer Verzückung vor einem Schulorchester stehenden Musikprofessors. Was tut's? Die Philharmoniker verstehen sie.

Auch bei Beethovens Ouvertüre zur Weihe des Hauses übertrug Gergiev den in der Stille der Taubheit entstandenen sperrigen Notentext in Zonen fast süffiger Hörbarkeit. Einzig das Flötenkonzert von Carl Philipp Emanuel Bach dürfte bei den Proben zu kurz gekommen sein, sodass sich Dieter Flurys stilsichere solistische Interventionen mit dem etwas verschleierten Orchesterklang nur selten mit der nötigen Klarheit vereinten. (Peter Vujica/DER STANDARD; Printausgabe, 22.10.2002)