Filmarchiv
Abseits der aktuellen Premieren kann man im Rahmen der Viennale auch lange verloren Geglaubtes wiederentdecken. Wien - Die Auseinandersetzung mit österreichischer Film- und Kinogeschichte wird, trotz des zuletzt wieder erwachten Publikumsinteresses an heimischen Filmen, doch eher als eine Angelegenheit für Spezialisten gehandelt. Das mag zum Teil auch daran liegen, dass besonders ihre Anfänge im regulären Retrospektivenbetrieb keine allzu große Rolle spielen. Das Metro-Kino, die neue Spielstätte des Filmarchiv Austria, wo auch in den vergangenen Jahren im Rahmen der Viennale immer wieder frühes Kino - Fundstücke, Neuerwerbungen und Restaurierungsergebnisse - gezeigt wurde, ist derzeit zweimal täglich Schauplatz eines diesbezüglichen Großunternehmens: Die Schau zeitnah, weltfern führt in insgesamt 18 Programmen durch die ersten Jahrzehnte der heimischen Kinematografie. Elisabeth Büttner und Christian Dewald haben die Retrospektive zusammengestellt. Die beiden Autoren des soeben erschienenen, wegweisenden "Arbeitsbuchs" Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945. (Residenz Verlag 2002) begreifen die Filme als "sichtbare Geschichte". Im Kino machen sie nun anschaulich, was im Buch an Themen, Motiven und Praktiken verhandelt wird: Das Eröffnungsprogramm allein ermöglichte bereits eine Vielzahl von Bezügen, gab beispielsweise erste Hinweise zu Materiallage oder formaler Vielfalt. Der Film Kleider machen Leute (1921), inszeniert von Hans Steinhoff, ist nur noch als 14-minütiges Fragment erhalten - großteils als Schwarzweißfilm, in einzelnen Sequenzen jedoch eingefärbt, mit Zwischentiteln, die sichtlich aus verschiedenen Fassungen stammen. Motivgeschichte Der Albtraum des Schneiders, der sich als Graf ausgibt, und nun seine Enttarnung fürchtet, ist eine Mischform aus Real- und Trickfilm, in dem Schlangen bedrohlich das Haupt des Schlafenden umzüngeln ... Diese kleine Geschichte von einem, der sich mittels äußerer Attribute einen höheren Rang und damit verbundene Vergünstigungen erschwindelt, wird in Geza von Bolvárys Champagner , einer britisch-österreichischen Koproduktion aus dem Jahr 1929, variiert: Dort ist es eine gewitzte Tellerwäscherin (Betty Balfour), die in einer komischen Spiegelszene ihr neues Selbst in der mondänen Abendrobe zunächst gar nicht erkennt, der vermeintlich entgegenkommenden Dame ausweicht - bevor sie ihre Maskerade dann ganz selbstbewusst zur Offenlegung und Verkehrung sozialer Machtverhältnisse nutzt. Mehr als drei Dutzend Stummfilme (zum Teil mit Liveklavierbegleitung von Gerhard Gruber und So-Ryang Joo) und Tonfilme sind in den thematisch gebündelten Programmen zu sehen. Filmgeschichte wird hier also programmatisch nicht anhand einer Chronologie der Ereignisse oder eines Meisterwerkekanons abgeschritten. Neben der oder vielmehr: durch die Filmgeschichte wird außerdem von der Erfahrung historischer Brüche und von politischen Verhältnissen oder utopischen Entwürfen erzählt, und von einer neuen Form von Öffentlichkeit, die Kino herstellte und an der erstmals in großem Maß auch Frauen Teil hatten. Nicht nur Spielfilme, sondern auch historische Dokumente sind zu entdecken: Aufnahmen, die den Publikumsblick noch nicht nach später etablierten Inszenierungsmustern lenken, wie etwa Wien: Das Leichenbegängnis des Reichstagsabgeordneten Franz Schuhmeier (1913), mit seinem beeindruckenden, tonlosen Aufmarsch von Tausenden Menschen, der "in seiner politischen Pointierung für Wien ungeahnt und einmalig" ist, wie Büttner und Dewald schreiben. Das Programm belegt nicht zuletzt eine intensive, internationale Sichtungs- und Sammeltätigkeit: In unterschiedlichsten Archiven wurden Filme aufgespürt. Die Nitrofilmaufnahmen der Firma Pathé von Schuhmeiers Begräbnis wiederum hat man 1999 auf dem Wiener Flohmarkt gefunden. Aber das ist nur eines von vielen Indizien, die zeitnah, weltfern ganz gegenwärtig machen. (DER STANDARD; Printausgabe, 22.10.2002)