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Foto: EPA/AFPI/Odd Andersen
Die Europäische Union hat die irische Zitterpartie im zweiten Anlauf gewonnen. Es war ein mühsam errungener Sieg. Von Kommissionspräsident Romani Prodi abwärts bemühte sich so ziemlich alles, was in der EU Rang und Namen hat, die Iren davon zu überzeugen, dass eine zweite Ablehnung der Ratifizierung des Vertrags von Nizza, in dem die grundlegenden institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung der EU geregelt sind, für die Zukunft Europas unabsehbare Folgen hätte. Wie unkalkulierbar diese Konsequenzen gewesen wären, wurde in den vergangenen Tagen dadurch deutlich, dass sich die Spitzenpolitiker der EU beharrlich weigerten, über einen Alternativplan im Fall der abermaligen Ablehnung von Nizza auch nur nachzudenken. Wie immer ein solcher Plan ausgesehen hätte und wie gefinkelt er auch angelegt gewesen wäre - ein zweites irisches Nein hätte jedenfalls eine erhebliche Verzögerung bei der für 2004 geplanten Erweiterung der EU um zehn Staaten bedeutet. Ob das größte diplomatische und politische Projekt in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs dann überhaupt gelungen wäre, darf bezweifelt werden. Denn die politische Ausgangslage in Europa hat sich gegenüber 1999, als der Vertrag von Nizza ohnedies unter großen Mühen geschnürt wurde, enorm verändert. In den fünfzehn Staaten der Europäischen Union ist es, was die weitere Integration Europas betrifft, zu einem Klimawandel gekommen - nicht zuletzt aufgrund des Vormarsches der nationalistischen Rechten, der allerdings in letzter Zeit etwas in Stocken geraten ist. Durch ein zweites irisches Nein hätte die Euroskepsis in Frankreich, Belgien und den Niederlanden weiteren Auftrieb erhalten. Wie tief die Angst vor negativen Folgewirkungen eines zweiten irischen Neins war, zeigten am Sonntag die zahlreichen erleichterten Reaktionen quer durch Europa und vor allem in den Kandidatenländern. Unüberhörbar war das Aufatmen allerdings nicht nur in den politischen Kreisen, sondern auch in der Wirtschaft, die von einem Scheitern der Erweiterung besonders getroffen würde. Die Chancen in den neuen Ländern, in die bereits investiert wurde, könnten nicht lukriert werden. So erfreulich somit der Ausgang des Referendums von Irland für die gemäßigten politischen Kräfte und für die Wirtschaft Europas ist, so sehr sollte die Zitterpartie Anlass zum Nachdenken geben. Denn das erste Referendum ist offenkundig nicht an einer antieuropäischen Haltung der Iren gescheitert, sondern an der Unfähigkeit der Politik, ernsthaft zu vermitteln, worum es in Europa letztendlich geht. Gerade das irische Beispiel zeigt, dass die Menschen in diesem Zusammenhang eben nicht nur ökonomische Fragen interessieren. Denn dass die Insel seit ihrem Beitritt zur Union enorm gewonnen und etliche Länder wirtschaftlich überholt hat, war schon beim ersten Referendum klar. Den positiven Umschwung haben allerdings erst die politischen Zusagen bewirkt. Da gab es zum einen die Erklärung von Sevilla, wonach die Mitgliedschaft in der Union und die irische Neutralität miteinander vereinbar sind. Die Klagen über das demokratische Defizit in der EU wurden unter Hinweis auf die Arbeit des Konvents zur Gestaltung der Zukunft Europas zumindest vorläufig entkräftet. Womit die Staatenlenker in Europa aus dem nun erreichten irischen Ja zu Nizza einen eindeutigen Auftrag ableiten sollten. Europa ist den meisten ein Anliegen, wenn ihnen klar wird, dass es nicht nur um Märkte, sondern auch um ein politisches Projekt geht, bei dem sie gehört und ihre Anliegen ernst genommen werden. Dies gilt sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern, wo in jedem einzelnen noch über die Erweiterung abgestimmt werden muss. Auch den künftigen EU-Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Mitgliedsländern wird es nicht genügen, nur Teilnehmer an einem großen Markt zu sein. Zu Recht wird von der künftigen Europäischen Union sehr viel mehr erwartet.(DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2002)