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Irgend etwas stimmt mit den dreien nicht. Mit dem letzten Bus am Abend machen sie sich auf, eine Mutter mit ihren beiden Söhnen, neun und fünf Jahre alt. Wohin die Fahrt geht, wissen die Kinder nicht. Nur eines hatte ihnen ihre Mutter verraten: "Sie würden das Meer sehen."

Meeresrand nennt Véronique Olmi ihr in Frankreich äußerst erfolgreiches Romandebüt. Im deutschsprachigen Raum kennt man Olmi als Theaterautorin, als Schreiberin von zumeist sozialkritischen Stücken, die vorwiegend auf kleineren Bühnen aufgeführt werden. Das könnte sich mit dem Erscheinen dieses schmalen Büchlein freilich schnell ändern.

Meeresrand beschreibt eine Mutter-Kind-Beziehung durch die Augen der Mutter, der Ich-Erzählerin. "Ich habe Angst. Nicht, dass ich wüsste, wovor", bekennt sie am Beginn der Reise. Noch ist die Fassade der Kleinfamilie intakt, wenngleich sich bereits einige Risse auftun. Das Puzzle der Psyche dieser Mutter wird der Leser erst nach und nach zusammen setzen können. Olmis bewundernswerter Kunstgriff besteht nämlich darin, in einem Normalität suggerierenden innerem Monolog eine psychisch kranke Frau zu porträtieren. Eine Mutter, die Medikamente schlucken muss, um über den Tag zu kommen und die bei der Erziehung ihrer Kinder auf professionelle Hilfe angewiesen ist. Die Fahrt ans Meer ist ein Befreiungsschlag. Auch ohne fremde Unterstützung will diese Frau zurecht kommen. Also gibt sie sich souverän, bis ihr Körper ihr einen Strich durch die Rechnung macht: "In meinem Kopf fing es zu reden an, das kann ich schon nicht leiden, die Denkerei ist ein heimtückisches Ungeziefer, manchmal wäre ich wirklich lieber ein Hund."

Das sich wie ein zusammenbrauendes Gewitter verdichtende Psychogramm wird allerdings erst durch die Reaktionen der beiden Kinder komplett. Sie sind der Spiegel, in dem die Konturen dieser Frau um so plastischer werden. Im Gegenzug entstehen in der Beschreibung durch die Augen der Mutter zwei mal hilfsbedürftige, mal monstergleiche Kinder. Mit ihnen würde sich der Leser gerne gegen die Übermacht der Ich-Erzählerin verbünden. Neben Olmis dramaturgischem Geschick, ihrem Sinn für Spannung, besticht vor allem ihr Talent für die suggestive Raumgestaltung, die Verschmelzung von Innen- und Außenräumen: die Beschreibung des regenverhangenen Städtchens am Meer, der mehr als ungemütlichen Einwohner, des klaustrophobischen Hotels und nicht zuletzt die Verdichtung des Meeres als Sinnbild für den Zustand der Mutter. "Das Meer war ein einziger schwimmender Friedhof, riesig und kalt." Gerade das so sanft daherkommende Ende des Romans (es soll hier nicht verraten werden) verdeutlicht noch einmal das Können dieser Autorin: den souveränen Umgang mit einer schnörkellosen Sprache, selbst in einem Moment, in dem die Sprache schreien können müsste. Auch deswegen mag man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen. (Von Stephan Hilpold/DER STANDARD, Printausgabe, 19.10.2002)