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Der Appell des liberalen belgischen Regierungschefs wird zeitgleich in führenden Medien aller EU-Länder veröffentlicht.

Foto: Reuters/Herman
Während die Welt zuschaut, wie sich die Schlacht um den Irak entwickelt, sind einige beklemmende Fragen aus den Nachrichten verschwunden. Erinnert sich noch jemand an die scharfe Kontroverse zwischen Anhängern und Gegnern der Globalisierung vor knapp einem Jahr? Ist Armut als Thema aus der Mode gekommen? War dies denn nicht die Jahrhundertfrage: Wie lässt sich ein gewalttätiger Klassenkampf zwischen den Ärmsten und den Reichsten der Welt vermeiden? Zwischen zwei Milliarden Menschen, die täglich aufs Neue versuchen, im Kampf gegen Hunger und Krankheit zu überleben, und einer halben Milliarde anderer, deren Hauptsorge darin besteht, den Plot ihrer täglichen Seifenoper zu erraten? Der Einkommensunterschied zwischen beiden beträgt heute durchschnittlich 30:1. Das Hauptproblem ist, dass diese Differenz nicht schrumpft, sondern wächst. Absurde Blockaden Zwischen diesen beiden Extremen gibt es ungefähr drei Milliarden Menschen, die von der Globalisierung auch profitiert haben. Völker, vor allem in Asien, die sich in einer Generation von dem täglichen Kampf um ein Dach über dem Kopf, um Kleidung und Nahrung befreit haben. Sie sind der Beweis, dass Globalisierung, freier Markt und Freihandel die beste - die einzig bewährte - Methode sind, um Armut auszumerzen. Die zwei Milliarden der Allerärmsten zeigen jedoch, dass Freihandel und Globalisierung allein nicht ausreichen. Wir in der Europäischen Union müssten uns eigentlich dessen bewusst sein. Von Beginn der Union an haben wir mitgeholfen, neue Mitgliedstaaten aus der Verarmung zu befreien (und werden es in diesem Jahrzehnt mit ganz Mittel- und Osteuropa wieder versuchen). Mit Freihandel. Aber auch durch intensive Zusammenarbeit, finanzielle Unterstützung und vor allem dank der Mitbestimmung der Betroffenen selbst. Daher sollten wir aufhören, von einer Megakonferenz zur nächsten zu hasten, in Monterrey, Rom oder Johannesburg. Wir (Europäer und Amerikaner) sollten aufhören, uns in einem Ersatzszenario von Globalisierungsgegnern und -anhängern gegenseitig zu triezen. Was wir brauchen, ist ein Konsens für mehr Entwicklung, für verstärkte Bemühungen seitens der Europäer wie auch seitens der Amerikaner. Nicht zuletzt in deren eigenem Interesse. Die Entwicklungen in der WTO nahmen letztes Jahr in Doha eine viel versprechende Wendung hin zum Freihandel, zu mehr Entwicklung. Aber wir brauchen nicht auf die WTO zu warten. Wir können, als Europäer, unsere eigenen Bemühungen intensivieren. Wir können schon jetzt mehr Freihandel ermöglichen. Die im Februar 2001 gestartete europäische Initiative "Everything but Arms", die den 48 am wenigsten entwickelten Ländern zoll- und quotenfreien Zugang zum europäischen Markt verschaffte, war ein wichtiger Schritt. Aber ist es nicht verlogen, dass gerade den Agrarprodukten, die für viele Entwicklungsländer lebenswichtig sind - Bananen, Reis und Zucker -, dieser freie Zugang zu unserem Markt bis zum Jahr 2006 bzw. 2009 größtenteils versagt bleibt? Subventionen . . . Ist es nicht bezeichnend, dass etliche Entwicklungsländer, die in puncto Einkommen knapp über den Allerärmsten liegen, von dieser europäischen Maßnahme ausgeschlossen werden? Ist es nicht bitter, dass die europäische Initiative unter anderen reichen Handelsmächten bisher herzlich wenig Nachahmer gefunden hat? Wo bleiben die Vereinigten Staaten, die sich offensichtlich immer stärker von der Globalisierungsproblematik distanzieren und unlängst Importzölle auf Stahl erhoben und die Subventionen für die Landwirtschaft und die Textilindustrie erhöht haben? Wir müssen mehr tun. Die Landwirtschaft ist der Schlüssel. In den Entwicklungsländern leben bis zu 70 % der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Im reichen Norden selten mehr als 5 %. Milliarden Menschen sind für ihr Überleben auf die Landwirtschaft angewiesen. Dennoch erheben die OECD-Länder auf Agrarprodukte noch immer Einfuhrzölle von durchschnittlich 40 %. Dies war auch der durchschnittliche Zolltarif, der Mitte des letzten Jahrhunderts, als Freihandel praktisch noch inexistent war, auf Industriegüter erhoben wurde. Heute beträgt dieser durchschnittlich 5 %. Aber es kommen noch andere Faktoren hinzu. Subventionen, die Europa damals halfen, seine eigene Nahrungsmittelknappheit zu bewältigen, treiben heute die Bauern in Entwicklungsländern von ihren Feldern. Die Zuckerproduktion kostet in Europa doppelt so viel wie in Südafrika, und doch wird der lokale Zucker vom europäischen ausgebootet. Die Milcherzeugung auf Jamaika ist in den letzten fünf Jahren durch importiertes europäisches Milchpulver um ein Drittel zurückgedrängt worden. Europäische Fischer werden derart unterstützt, dass sie mit ihren modernen Flotten die immer spärlicher besiedelten Fischgründe vor den afrikanischen Küsten leer fischen können. . . . mit fatalen Folgen Trotz Reformen erhalten europäische Landwirte und Agrarbetriebe noch immer Zuschüsse, um ihre ärmsten Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Europa zahlt jährlich 120 Millionen Euro Entwicklungshilfe an Südafrika. Gleichzeitig verliert das Land dadurch, dass der europäische Zucker auf seinem Markt zu Schleuderpreisen verkauft wird, jedes Jahr ungefähr 100 Millionen Euro an potenziellen Exporteinnahmen. Wir Europäer bekämpfen die Armut mit der einen Hand, verhindern aber mit der anderen ihre Beseitigung. Wir lindern die Armut, sorgen aber auch für ihr Fortbestehen. Einige arme Länder versuchen, der Misere auf dem Land zu entgehen, und investieren beispielsweise in die Produktion von Textilien und Kleidung. Aber auch der Handel mit diesen Produkten wird durch Einfuhrzölle reicher Industrieländer vereitelt. Sowohl der westliche Verbraucher als auch der asiatische oder afrikanische Arbeiter zahlen den Preis dafür . . . Guy Verhofstadt *Der erste Brief dieser Art wurde vor rund einem Jahr publiziert. Konkreter Anlass für die zweite Ausgabe ist die Internationale Globalisierungskonferenz in Löwen, Belgien (26. 11.), auf der die Ergebnisse der hier initiierten Reformdebatte erörtert werden sollen; wir drucken den Beitrag in zwei Folgen. (DER STANDARD, Printausgabe 19.10.2002)