Wirtschaft
Wifo-Chef kritisiert öffentliche Debatte
Helmut Kramer sieht EU-Wirtschaftspolitik erschüttert, hält aber eine Revision des Stabilitätspakts für "diskussionswürdig"
Wien - Die jetzt losgetretene öffentliche Diskussion über
den europäischen Stabilitätspakt sei, "so fürchte ich, noch etwas
dümmer als die vorangegangene", sagte der Leiter des
Wirtschaftsforschungsinstitutes (Wifo), Helmut Kramer, am Freitag zur
APA. Er, Kramer, könne nicht nachvollziehen, was
EU-Kommissionspräsident Romano Prodi (laut Zeitungsinterview, Anm.)
an dem Pakt als "dumm" bezeichne. Auswirkungen auf den Euro-Kurs im
Verhältnis zum Dollar erwartet Kramer dennoch nicht, da die
Finanzmärkte in ihren Erwartungen schon früher eingepreist hätten,
dass der Stabilitätspakt brüchig sei, vor allem dass Deutschland die
Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent nicht einhalten könne. Er glaube
aber, dass auf längere Sicht die Glaubwürdigkeit der europäischen
Wirtschafts- und Geldpolitik erschüttert sei, sagte Kramer. Der Wifo-Chef räumte jedoch ein, dass eine Novellierung des
Stabilitätspaktes von Maastricht diskussionswürdig sei. Das sollte
jedoch zunächst auf Experte- und politischer Ebene unter Ausschluss
der Öffentlichkeit erfolgen. Im Vorfeld der Festlegung der
Konvergenzkriterien sei massiv diskutiert worden, was im Euro-Raum
bei unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen der
Mitgliedsländer passieren könnte. "Einen asymmetrischen Schock hat
man erörtert, aber nicht einen symmetrischen Schock wie er jetzt
passiert", indem Konjunkturflaute, überzogene Börsenkurse und eine
allgemeine Vertrauenskrise alle Länder gleichzeitig treffen, sagte
Kramer.
Unter den gegebenen Umständen sei der Stabilitätspakt "politisch
nicht real und wirtschaftlich nicht sinnvoll" einzuhalten. "Ich hätte
einen Schrecken bekommen, wenn der deutsche Staatshaushalt
tatsächlich bis 2004 ausgeglichen worden wäre", merkte Kramer,
offenbar im Hinblick auf konjunkturelle Auswirkungen einer extremen
Sparpolitik, an.
Er, Kramer, glaube aber nicht, dass der Stabilitätspakt ersatzlos
auslaufen sollte. An dessen Stelle müsse ein Ersatz treten, der
Haushaltsdisziplin unter Berücksichtigung der konjunkturellen
Einflüsse verlange. Der neue Pakt müsse eine glaubwürdige
Verpflichtung sein "und nicht nur eine gut gemeinte Strafandrohung
unter Vernachlässigung der konjunkturellen Effekte". Der jetzige
Stabilitätspakt wirke prozyklisch, indem er von Volkswirtschaften mit
Defizitproblemen noch zusätzliche Strafzahlungen verlange, was deren
Probleme noch verschärfe. Das sei politiisch vor allem dann nicht
mehr durchsetzbar, wenn davon mehrere größere Länder betroffen wären.
"Wenn die Großen tun was sie wollen und das in aller Öffentlichkeit
kund tun, werden sich die Kleinen (Länder) auch nicht mehr daran
halten", so Kramer.
Für ein strukturelles Defizit, das Belastungen durch die Wirkung
automatischer Budgetstabilisatoren ausklammere, gebe es zahlreiche
verschiedene Berechnungsmöglichkeiten. Dieses dürfe also nicht
willkürlich von den einzelnen Ländern interpretiert werden, sondern
man müsse sich auf eine Berechnungsmethode einigen. Als eine
Möglichkeit verwies Kramer auf den letzten Bericht über "Public
Finances in EU Countries", wo derartige Berechnungskonzepte
vorgestellt seien. "Im Prinzip, so glaube ich, könnte man einen
Konsens herbeiführen und sagen: So ist das strukturelle Defizit zu
berechnen". Auf diese Weise ließe sich das jetzt erschütterte
Vertrauen der Märkte durchaus wieder befestigen, wenn die
EU-Verantwortlichen auf eine verbesserte Vereinbarung verweisen. (APA)