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Alicia Keys während ihrem Live-Auftritt im Wiener Gasometer
Foto: APA/HARALD SCHNEIDER
Wien - Und ab geht es gleich im gemütlich tuckernden Groove-Vehikel zurück in jene schöne Zeit, da man wartete, dass Stevie Wonder Songs in the Key of Live herausbringt, den Schmöker aus drei LPs (plus eine Single). Alicia Keys hat damals, weil noch nicht auf dieser Welt, nicht gewartet. Sie hat das Chef d'oeuvre (aus 1976), dessen Landung im Plattenladen mehrmals verschoben wurde und von dessen Ideenüberfülle sich Stevie nicht mehr erholt hat, trotzdem gut verinnerlicht. Das Glück der Spätgeborenen ist natürlich auch ein Unglück. Lässt sich's im Schoß der Tradition gut leben, so scheint doch der Weg zu sich selbst ein wenig durch die Geistesblitze der Väter und Mütter versperrt. Doch wollen wir hier nicht die Fortschrittskeule auspacken. Alicia hat zu jener Zeit, da der 80er-Jahre-Discosoul reüssierte, gerade gehen gelernt, hat bisher erst einundzwanzigmal Weihnachten gefeiert - aber es ging bei ihr bisher doch alles sehr, sehr schnell. Erster Song Mit neun die erste Band. Mit 14 der erste eigene Song, ein Jahr später der Plattenvertrag. Schon jetzt eine Menge Grammys in der Vitrine. Da fehlen natürlich noch ein paar Privatstunden in Sachen Selbstfindung, das kann nicht anders sein. Wenn sie uns nicht gerade mit Beethovens Mondscheinsonate in ihr Übungszimmer lädt und ein bisschen geschwätzig durch ihre dünnen Balladenfantasien führt (während die Band hinter der Bühne entspannt), dann ist sie allerdings eine dominante Bühnenlady, die sicher nach ein paar falschen Noten gleich die ganze Band feuern würde. Man soll sich von Zöpfen eben nicht täuschen lassen. Zwischen ihnen lauern zwei abgefeimte Augen, die aus einer idealen Schwiegertochter eine Soulchefin machen, die sich ihren Spaß zu holen verstünde. Ob das jetzt echt ist oder nur vor dem Spiegel gut geübt? - die Jahre werden es zeigen. Immerhin reicht ihr Stil, den Raum mit Gesten auszufüllen, jetzt schon aus, um die Bühne dynamisch zu dominieren. Und so ähnelt sie immerhin die Hälfte der Konzertzeit nicht jenem Mädchen, das sich auf ihrer ersten CD bei Mama bedankte. Wofür auch immer. Saver-Soul hin, Unschuld her - diese Stimme hat man jedenfalls zu mögen. Sie serviert hitzige Gedanken nicht kühl, aber cool und erspart uns darüber hinaus jene überkandidelten Melismen und gospelhaften Verzierungskünste insofern, als diese nur dann auftreten, wenn sie etwas mit einem Seelenkribbeln knapp über dem Nabel zu tun haben. Alicia ist gut geimpft gegen Affektiertheit und hat das Zeug zu sich selbst. Dass sie noch nichts Doppelbödiges anzubieten hat? Das wird schon. Möge man ihr bei der Firma die Zeit geben. Sie ist mehr als nur eine Prinzessin auf der Soul-Erbse. (Ljubisa Tosic - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom14.10.2002)