"24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York" von René Pollesch in "Neustadt", in der Volksbühne:

Wortsalven einer Drei-Frauen-Gang - Christine Groß, Nina Kronjäger und Catrin Striebeck - zwischen Theorie und Praxis

Foto: Volksbühne
Eine urbane Spiellandschaft mutet sich und anderen seit Samstag die Berliner Volksbühne unter Frank Castorf zu: Im revolutionär veränderten Theaterraum "Neustadt" wird Neues von René Pollesch und ab Dienstag auch "Der Idiot" (nach Dostojewski) gegeben. Berlin im Oktober: Es schneit. Es stinkt nach Braunkohle. In der Kulturkasse der vereisten Metropole fehlt Geld. In der kriminell unterfinanzierten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wird der Kunstkessel aber wieder einmal bis zum Glühen erhitzt. Dort trieb man dieser Tage ein Projekt zur Doppelpremiere, das jetzt schon als das künstlerisch wegweisende der eben begonnenen Theatersaison bezeichnet werden kann: Seit Jahren bereits stellt man sich an der Volksbühne der Frage, wie die komplexen Strukturen der postindustriellen Gesellschaft, deren mannigfaltige immaterielle Abhängigkeiten und Querungen sich jeder direkten Darstellbarkeit entziehen, szenische Umsetzung finden könnten.

In den vergangenen Monaten fand nun ein künstlerisches Kernteam im Haus zusammen, das in den gewagten Versuchen einer Antwort ästhetische Explosionen freisetzt, wie sie in der Theaterlandschaft derzeit ihresgleichen suchen: Frank Castorf und René Pollesch, die Dramaturgen Bettina Masuch und Karl Hegemann - im Zentrum der Experimente aber steht verblüffenderweise nicht der Hausherr, sondern der Raumdenker und Bühnenerfinder: Bert Neumann.

Seit Jahren verwirft Neumann den herkömmlichen theatralen Raum in seiner Guckkasten-Simplizität als inadäquat. Für Frank Castorf entwarf er daher - etwa für Dämonen, Endstation Sehnsucht, Erniedrigte und Beleidigte und zuletzt für Der Meister und Margarita - die in Wien oder Salzburg zu sehen waren - Container-Orte, auf denen sich das Spiel zunehmend hinter die Wände in die Unsichtbarkeit zurückzog. Filmtechnik griff ergänzend ein, entriss den Schauspielergesichtern in Großaufnahme Momente der Intimität, drang in die hermetischen Räume des Geschehens vor.

Neumanns Landschaften mäandern an der Grenze von Theater und Film, von Echtzeit, Echtort und technischem Surrogat. Nun kulminiert Neumanns Neugier in der Neustadt: Für dreimal vier Wochen definiert er das Volksbühnen-Innere zur Ersatzstadt um. Die klaren Grenzen von Zuschauerraum und Bühne werden aufgelöst, das Raumganze skizziert ein städtisches Kontinuum, mit Angeboten zu Öffentlichkeit, Dienstleistung und Konsum, in Hotel, Platz, Friseur oder Supermarkt. Bauholzplatten, zehn Meter hohe Stahlrohrgerüste, Containerblech, Kabel und Neonröhren türmen sich zur nüchternen Erhabenheit der Berliner Großbaustelle, zum Filmset mutiert.

Das Neustadt-Leben stampfte der hochtourige Volksbühnen-Motor in den vergangenen Monaten aus dem Nichts. Kongresse, Konzerte, eine Internationale Mobile Akademie, Dokumentarfilme zum Thema "Urbanes Über-Leben" umkreisen satellitengleich die theatralen Doppeltürme der zwei Theaterproduktionen: Frank Castorfs Idiot, das am Dienstag Premiere hat, und René Polleschs 24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York, mit dem die Neustadt am Samstag startete.

Pollesch setzte das Publikum mehr oder weniger unbehaust aus im Zentrum des Raums, auf den hölzernen Stufen der zentralen Piazza. Dort umtosten es die hochdiskursiv aufgeladenen Wortsalven einer Drei-Frauen-Gang von Christine Groß, Nina Kronjäger und Catrin Striebeck. Wie immer erwacht in Polleschs Texten die jedem erfahrbare Realität hinter den soziologischen Diskursen durch die erregten Leiber seiner Darstellerinnen hindurch zu Leben, gewinnt Theorie, ohne jede Sentimentalität, auf der Bühne Wahrheit.

In Escape from New York sampelt er Motive von John Carpenters futuristischem Thriller - die Stadt als Gefängnis, Experimentierfeld anarchischer Reorganisationsprozesse - mit Fassbinders Arbeitswelt-Fernsehserie Acht Stunden sind kein Tag und jüngsten Erkenntnissen der Urbanitätsforschung zur theatral gezielt überfordernden Standortbefragung.

Geschrien, gesprochen, durch Mikrofone geflüstert, kreisen die Worte im Raum wie die Rotorblätter gigantischer Hubschrauber, erheben sich mithilfe von Filmmusik King Kong und Godzilla akustisch aus dem Dunkel des Raums, unsichtbare Albträume der Stadtangst.

Erstmals verlässt René Pollesch das kleine szenische Format und nutzt die sinnliche Wucht des Großraums und seiner meterhohen Stahlschluchten. Seine Diskurs-Arien erweitert die Szene mit ihren Stimmungsräumen zwischen Horror und Satire zur filmisch überhöhten Sprach-Oper, durch welche der Zuschauer ihm, desorientiert und überfordert, stolpernd folgt. Eine grandiose Eröffnung. Fortsetzung folgt. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2002)