Schon in seinen berühmten Essais erklärt Michel de Montaigne, der große französische Essayist des 16. Jahrhunderts, einmal programmatisch: "Ich schildere nicht das Sein, ich schildre das Unterwegssein." Wie sehr diese geographische wie geistige, über 14 Monate unternommene Landnahme als "italienisches Reisetagebuch" von Paris über die deutschsprachige Schweiz, Innsbruck, Rom, das toskanische Lucca und zurück über Mailand und Lyon ins heimische Montaigne in Südwestfrankreich damals allerdings auf Unverständnis stieß, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass die lange verschollenen Tagebücher erst rund 180 Jahre nach Montaignes Tod erstmals 1774 erschienen. Und selbst damals noch wollten nur wenige Leser wie etwa ein begeisterter Johann Wolfgang von Goethe deren erhebliches avantgardistisches Potential erkennen. Goethe: "Wie ein starker, feiner, zartgesinnter, sich selbst beobachtender, neugieriger, mit einer gewissen anmutigen Eitelkeit behafteter französischer Edelmann in fremden Ländern hervortritt, ist wohl auf keine andere Weise zu schauen und zu erfahren."Zwar reiste Montaigne damals zwischen 1580 und 1581 nicht ganz unfreiwillig durch Mitteleuropa. Immerhin könnte man diese Reisetätigkeit aufgrund gesundheitlicher Probleme überspitzt gesagt als "urinologisch beförderte Ethnologie" bezeichnen. Der arme Mann suchte schließlich als von Nierensteinen und Koliken geplagte Geistesgröße profane Linderung in Bad-und Wasserkuren in Italien und auf dem Weg dorthin. Dies führte, verfasst von einem namenlosen, ständig zwischen Ichform und dritter Person wechselnden Sekretär, und später, als dieser sich von Montaigne aus nicht näher genannten Gründen getrennt hatte, vom Meister selbst verfasst, nicht nur zu bemerkenswert modernen, weil nicht die Scheu vor damals noch gar nicht erfunden gewesenen Seitenblicke -Selbstbeobachtungen: "Am Donnerstagmorgen trank ich erneut fünf Pfund Wasser, und sogleich ergriff mich die Furcht, ich könnte sie wieder nicht ausscheiden und sie möchten mir schlecht bekommen. Sie bewirkten zwar einen Stuhlgang, aber urinieren konnte ich tatsächlich kaum." Vor allem die im heute durchaus angesagten oberflächlichen Plauderton gehaltenen Tischgespräche mit zwischen Calvinismus, Lutherischem und Zwinglianern hin und her gerissenen Schweizer Geistlichen aber, inklusive einer hochkomisch geschilderten Papstaudienz bei Paul III. in Rom faszinierten den Katholiken Montaigne derart, dass er sich in seiner Meinung bestätigt sah, man solle die Gläubigen nicht mit theologischem Disput belasten, da jeder Glaube offenbar auf seine Art selig mache. Aus heutiger Sicht ebenso skurril wie nachvollziehbar, Montaignes Schilderung der Deutschen. Immerhin ortete der Mann im Volk, das seinen "Wein immer ohne Wasser" trinke, weitaus bessere Köche als jene daheim in Frankreich - was man so heute nicht mehr sagen würde. Gleich geblieben sind allerdings folgende Klischees: "Sie sind zwar Prahlhänse, Choleriker und Trunkenbolde; aber weder Betrüger noch Spitzbuben." Die Reise als intellektuelles wie sinnliches Vergnügen, Erkenntnis im und als Abenteuer. Und immer viel Wasser trinken! (Von Christian Schachinger/DER STANDARD; Printausgabe, 12.10.2002)