Und mitunter liefert das Kino dann sogar Vorbilder für Gewalttäter: Einer der berühmtesten Fälle war John Hinckley, besser bekannt als der Mann, der 1981 ein Attentat auf den US-Präsidenten Ronald Reagan verübte.Hinckley ließ sich dazu von Travis Bickle inspirieren, dem Vietnam-Veteranen aus Martin Scorseses Taxi Driver. In der Typologie der Film-Bösewichte kommt Bickle ein neuer Status zu, handelt es sich doch um einen beliebigen Mann aus der Masse der Großstadt, der sich im Grunde für ein zufälliges Vorgehen entscheidet. Der Heckenschütze (engl. Sniper), der von oben herab auf eine diffuse Menge schießt, übersetzt dieses Prinzip ins Räumliche: Der in diesem Sinn agierende Attentäter eines Larry-Cohen-Thrillers wählte zudem eine ähnlich religiös-verbrämte Identität wie der Täter aus Washington: God Told Me To - so auch der Filmtitel - lautete seine Begründung. Und auch Dirty Harry machte in seinem ersten Fall Jagd auf einen anonymen Mörder, der San Francisco u. a. von den Dächern herab bedrohte - und seine Morde mit Notizen wie "Jetzt hole ich mir . . ." anzukündigen pflegte. Das Gesicht des Bösen verändern Es waren die späten 60er-Jahre, als Heckenschützen als Serienmörder erstmals im US-Kino auftauchten und das Gesicht des Bösen veränderten, indem sie dessen individuelle Züge allmählich auszulöschen begannen: Peter Bogdanovichs Targets spielt mit diesem Kontrast aus Altem und Neuen, wenn Boris Karloff als alternder Horrorstar mit dem Terror und der Paranoia der Gegenwart konfrontiert wird, als ein Sniper mit immensem Waffenarsenal aufkreuzt und wahllos Menschen erschießt. Mitunter lieferte die Wirklichkeit auch die Idee. In dem Fernsehfilm The Deadly Tower verkörperte Kurt Russell "Amerikas beliebtesten Heckenschützen" (Stephen King): Charles Joseph Whitman. Er verursachte an der Texas University ein Massaker, als er vom höchsten Punkt des Gebäudes auf die Menge schoss, nachdem er zuvor seine Frau und seine Mutter ermordet hatte. Wie sehr solche seriellen Täter längst zu den Americana gerechnet werden dürfen, zeigt sich auch daran, dass sie nicht nur im Genrekino ihren Fixplatz haben: Der Experimentalfilmemacher James Benning lieferte mit Landscape Suicide den vielleicht beunruhigendsten Beitrag dazu. Er nähert sich darin zwei Tätern ohne jeden Sensationalismus nur über menschenleere Ansichten ihrer Milieus - dem Farmland von Wisconsin und der Mittelklasse-Ödnis kalifornischer Suburbs. Dass Hollywood nun auf den Washingtoner Heckenschützen damit reagiert, den Thriller Phone Booth, in dem Kiefer Sutherland einen ebensolchen gibt, zu verschieben, kann da nur als Scheinheiligkeit gewertet werden. Zwei, drei Jahre später - und auch dieser Täter erhält seine fiktive Entsprechung. Warum auch nicht. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 12.10.2002)