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Weiss: "Für eine Gesellschaft, die zu dumm geworden ist, ins Museum zu gehen, gibt es keine Überlebenschance."

Foto: REUTERS/Christian Charisius
Der Anruf des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder habe sie "kalt erwischt", erzählt Christina Weiss. Sie wollte eigentlich diese Woche ein Angebot annehmen, in Süddeutschland Geschäftsführerin einer Stiftung zu werden. Das schlug die 49-Jährige nun zugunsten einer "sehr attraktiven Aufgabe" aus, die sie aber - ganz Realistin - nicht als Traumjob sieht: Weiss wird als erste Frau das 1998 geschaffene Amt des Kulturstaatsministers übernehmen. Ihre Berufung wurde allgemein begrüßt: Die promovierte Literaturwissenschafterin genießt den Ruf eines durchsetzungsfähigen Vollprofis. "Sie bringt damit genau das mit, was mir gefehlt hat", meinte ihr Vorvorgänger Michael Naumann, der als Verleger ins Kanzleramt gewechselt war und sich nach zwei Jahren sichtlich ernüchtert in die Chefredaktion der Zeit verabschiedete. Ihr Vorgänger Julian Nida-Rümelin, der sehr vorsichtig agierte, wird wieder an den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Göttingen zurückkehren. Von 1991 bis 2001 war Weiss Kultursenatorin in Hamburg. Mit der Wahlniederlage der SPD musste auch sie ihren Sessel räumen, worauf ihr die Kulturszene an der Alster ein großes Abschiedsfest bereitete, bei dem viele Tränen flossen. Die parteilose Weiss genoss in der Hanse- stadt auch den Respekt des konservativen Lagers. Ihr gelang der Spagat, die experimentelle Kunst zu fördern, ohne die traditionelle Kultur zu vernachlässigen. Bevor sie in den Senat berufen wurde, hatte sie für zwei Jahre die Programmleitung des Hamburger Literaturhauses inne, das sie zu einem Publikumsmagneten machte. Davor arbeitete die gebürtige Saarländerin, die wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Saarbrücken und Siegen war und ihre Doktorarbeit über modernistische Bildergedichte schrieb, als Literatur- und Kunstkritikerin, unter anderem beim Magazin 'art'. Damit kennt sie alle Seiten: die Wissenschaft, die Medien, den Kulturbetrieb und die Politik. In Hamburg hat sie gelernt, mit dem Rotstift umzugehen und dennoch für die Kultur ein- und aufzutreten. Das wird auch in Berlin ihre vorrangige Aufgabe sein. Auf ihrem Posten trifft sie gleich auf einen alten Verbündeten: Knut Nevermann, ihr früherer Staatsrat in Hamburg, zieht dort schon als zweiter Mann die Fäden. Gleich beim ersten Kennenlernen unterbreitete die gewiefte Taktikerin dem Kanzler eine Forderung: Sie will die Zuständigkeit für die Goethe-Institute vom Auswärtigen Amt in ihr Ressort übertragen. Ob ihr dies gelungen ist, wird sich erst zeigen. Ebenfalls noch offen ist, ob Weiss, die ihre Wohnung mit Tausenden Büchern teilt, ihre Bibliothek von der Alster mit an die Spree nimmt. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.10.2002)