Die Einwände, die Politiker und Intellektuelle in Europa, aber zunehmend auch in den Vereinigten Staaten gegen die den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) bekämpfende US-Politik erheben, sind, um das gleich vorwegzunehmen, weder "antiamerikanisch", noch propagieren sie den Vorwurf, die USA versuche "sich über das Gesetz zu stellen", wie dies US-Botschafter Lyonel Brown vor kurzem in der Presse unterstellt hat. Tatsächlich richtet sich die Kritik nicht gegen Amerika, sondern gegen die US-Administration, weil diese sich weigert, sich einem auf völkerrechtlichen Verträgen basierenden "rule of law" anzuschließen. (Das gilt im Übrigen nicht nur für die Rücknahme der von Präsident Clinton bereits geleisteten Unterschrift unter das Statut des ICC, sondern zum Beispiel auch für die Verweigerung der Unterzeichnung der Menschenrechtskonvention 1948 durch Präsident Truman.) Haltlose Vorwürfe Die Gründe, die Botschafter Brown für diese Politik ins Treffen führt, halten einer Prüfung nicht stand. Seiner Forderung, dass in erster Linie die betroffenen Staaten selbst für die gerichtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen verantwortlich sein sollen, wird im Statut des ICC durchaus entsprochen. Der Internationale Strafgerichtshof verfügt nur über subsidiäre Zuständigkeit. Es stimmt, dass es die primäre Aufgabe sein sollte, verlässliche und demokratische Gerichtswesen auf der ganzen Welt zu fördern, aber wie verträgt sich dieses Argument von Botschafter Brown mit der Tatsache, dass die USA in einer ganzen Reihe von Fällen dann, wenn es ihrem (oft nur vermeintlichen) Interesse entsprach, genau das Gegenteil taten, wie etwa bei der ursprünglichen Unterstützung der Taliban in Afghanistan gegen die Sowjetunion oder des Diktators Saddam Hussein gegen den Iran? Auch der Einwand des ungenügend kontrollierbaren Verfahrens vor dem ICC entbehrt der Grundlage. Der Anklageerhebung hat gemäß dem Statut eine eingehende Prüfung voranzugehen, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist befugt, das Verfahren zu sistieren. Und selbstverständlich haben die Prozessparteien die Möglichkeit, Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Nicht nachvollziehbar erscheint weiters der Verdacht, der ICC berge die Gefahr politischer, also ungerechtfertigter und willkürlicher Verfolgung harmloser amerikanischer Angestellter und Militärpersonen im Ausland: Ich kenne keine Präzedenzfälle aus anderer internationalen Gerichtsverfahren, die diese Gefahr nahe legen würden. Eine solche Unterstellung ist nicht nur unseriös - der ICC hatte schließlich noch keine Gelegenheit, die Qualität seiner Arbeit unter Beweis zu stellen -, sie richtet auch in den derzeit laufenden Kriegsverbrecherprozessen z. B. das ehemalige Jugoslawien betreffend großen Schaden an, denn nichts gebrauchen die dort Angeklagten lieber zu ihrer Verteidigung als das Argument, dass sie Opfer einer gegen ihr Land gerichteten Politjustiz wären. Nun können sie sich mit ihren Vorwürfen auf die US-Regierung berufen. Auch bei professionellem diplomatischem Geschick ist es kaum möglich, für die Verfolgung von Kriegsverbrechern anderer Nationen durch internationale Gerichte einzutreten und gleichzeitig solche Gerichte der politischen Voreingenommenheit zu zeihen, wenn es darum geht, die eigenen Staatsangehörigen - right or wrong, my country - der Verfolgung zu entziehen. Unplausibel ist vor allem das Argument, US-Personal im Ausland sei der Gefahr einer angeblichen Politjustiz des ICC eher ausgesetzt als andere Staaten, weil die USA mehr solches Personal außerhalb ihrer Grenzen stationiert haben. Es gibt zwar in manchen Teilen der Welt heftige Animositäten gegen im Ausland stationierte US-Truppen, und das hat bereits zu schrecklichen Terroranschlägen mit vielen unschuldigen amerikanischen Todesopfern geführt. Es wäre aber ein Ungeheuerlichkeit, dem ICC ohne konkrete Anhaltspunkte solche Animositäten zu unterstellen. Brown kommt schließlich auf die Bemühungen der USA zu sprechen, die Immunität ihrer Staatsangehörigen gegenüber dem ICC durch möglichst viele bilaterale Verträge abzusichern, in denen auch dem Vertragspartner im Gegenzug die gleiche Immunität eingeräumt wird. Und er appelliert namens seiner Regierung an jene Nationen, die in der Vergangenheit vom Einsatz der USA für den Frieden profitiert haben, dafür Verständnis zu zeigen. Verständnis wofür? Man stelle sich vor: Die Regierung jenes Landes, das vor bald 60 Jahren bereit war, seine Söhne in einen weit entfernten Krieg zu schicken, um zur Befreiung Europas von der Naziherrschaft einen entscheidenden Beitrag zu leisten, des Landes, das nach Kriegsende in den Nürnberger Prozessen vorgeführt hat, wie man die Schuldigen der Naziverbrechen in einem fairen, internationalen Gerichtsverfahren zur Verantwortung zieht, diese Regierung lädt heute andere Staaten zu Pakten ein, mit denen Personen, die im Verdacht stehen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, der internationalen Gerichtsbarkeit entzogen werden sollen, nur weil sie die Staatsbürgerschaft der Paktierenden besitzen . . . (DER STANDARD, Printausgabe, 4.10.2002)