Zagreb/Den Haag - So leergefegt waren die Straßen Kroatiens seit dem Fußball-Halbfinale vor vier Jahren nicht mehr: In Cafés, an Tankstellen und in Lebensmittelläden konnten die Kunden die Direktübertragung des Schlagabtauschs zwischen Slobodan Milosevic und Stipe Mesic in Den Haag verfolgen. Das erste Programm des kroatischen Rundfunks registrierte 40 Prozent Einschaltquote, als der Präsident des Landes am Mittwoch vor dem Kriegsverbrechertribunal gegen den Staatsfeind Nr. 1 aussagte.Mesic, damals noch Weggefährte des neuen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, mit dem er später brach, gehörte schon 1990 zu den ärgsten Widersachern von Milosevic. Der damalige serbische Präsident weigerte sich, Mesic turnusmäßig ins Amt des jugoslawischen Staatschefs zu wählen - was mithalf, Kroatien aus Jugoslawien hinauszutreiben. Der Angeklagte, der sich selbst verteidigt und alle Zeugen ausführlich befragen darf, tat sich mit seinem Gegenüber schwerer als mit jedem anderen vor ihm. Milosevic konnte sich nicht entscheiden, ob er Mesic anklagen oder zum Zeugen der Verteidigung gegen kroatische Extremisten machen sollte. Einerseits warf er Mesic vor, er habe "schon 1971 die Zerstörung Jugoslawiens betrieben", andererseits befragte er den Präsidenten zu seinen eigenen Zeugnissen gegen Tudjman. "Verbrechen gegen Serben" Anders als Milosevic, der die völlige Unschuld der eigenen und die volle Schuld der anderen Seite unterstellte, gab Mesic differenzierte Urteile. Ein von Milosevic als Tatsache angeführtes Gerücht, es habe in Kroatien "221 Lager für Serben" gegeben, wies Mesic differenziert zurück: Es habe "Übergriffe und Verbrechen gegen Serben" gegeben, aber von Lagern wisse er nichts. Ob er nicht wisse, dass auch kroatische Generäle in Bosnien gekämpft hatten, fragte Milosevic in seinem überheblichen Grundton. "Doch", entgegnete Mesic, "so sagt man." Mit seinem Freimut ließ Mesic den Frager für einen Augenblick sprachlos zurück - zum ersten Mal in diesem Prozess. Mindestens so interessant wie das erste war am Mittwoch das zweite Programm des kroatischen Rundfunks: Im Minutentakt taten Anrufer beim "Radio-Referendum" ihre Meinung zu dem Geschehen kund, fast alle über die kleinsten diplomatischen Einzelheiten des damaligen Konflikts genau informiert, viele mit bebender Stimme. Sogar Serben riefen beim Sender in Zagreb an. Die Meinungen schwankten extrem. Eine Frau überschlug sich fast vor Wut über das Prozessrecht in Den Haag: Dass im Kreuzverhör Mesic und nicht Milosevic Rede und Antwort stehen muss, wollte vielen Anrufern nicht in den Sinn. Knapp die Hälfte der Anrufer war mit Mesic unzufrieden, weil der Präsident die kroatische Position nicht klar genug verteidigt habe.(Norbert Mappes-Niediek/DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.10.2002)