Deutschland quälte sich in einem matten Wahlkampf, der neulich durch eine gewaltige Flutwelle (durch höchst reales Wasser) weggespült wurde. Der Kandidat der Opposition glänzte durch Vorsicht; das Konzept seiner Medienberater lautete: nicht auffallen, nicht polarisieren, keine Experimente. Der Kanzler propagierte über ein ganzes Jahr "die ruhige Hand". Und nun? Im Mittelpunkt der Wahlauseinandersetzung stand der Streit um die Wirtschaftspolitik. Deutschland leidet unter Wachstumsschwäche, hat eine zu geringe Erwerbs-, vor allem Frauenerwerbsquote und hat ein spürbares Defizit an Fachkräften. Diese Misere bündelt sich in einer Arbeitslosenquote von 9,7 %, die zum Beispiel die Schweizer (2,7 %) zum Aufstand triebe. Die Neoliberalen wissen natürlich ganz genau, was man in dieser Situation tun müsste: privatisieren, Transferleistungen senken, Steuern senken, Sozialstaat verschlanken. Zu vierzig Prozent haben sie Recht; das heißt aber gleichzeitig, dass sie zu sechzig Prozent Unrecht haben. Immerhin: Der deutsche Steuerstaat ist, trotz einer gar nicht mutlosen Steuerreform der Regierung Schröder/Fischer, allzu strangulierend. Die Mischung von Arbeitslosengeld und Schwarzarbeit ist so attraktiv, dass Hunderttausende Arbeitslose gar nicht daran denken, wieder ein Beschäftigungsverhältnis anzustreben. Ein Schuss Liberalismus wäre also keineswegs schädlich. Die rigorose Durchsetzung der kalifornischen Ideologie aber würde spezifisch deutsche Qualitäten zerstören. Der Kanzler Helmut Schmidt sprach von einem "Modell Deutschland", der Kanzler Schröder redet neuerdings vom "deutschen Weg". So Unrecht haben sie nicht. Schon Ludwig Erhards "Soziale Marktwirtschaft" war etwas anderes als das, was in Großbritannien, Frankreich oder gar den USA praktiziert wurde und wird. Die deutschen Politiker fürchten sich nur vor der Wahrheit. Sie lautet: Eine erhebliche Minderheit der deutschen Arbeitslosen will sich an die Bedingungen der "beschleunigten Gesellschaft" nicht anpassen. Diese Leute wollen nicht in Düsseldorf arbeiten, wenn sie in Wolfsburg gebaut haben. Sie sind es leid, den ganzen Tag und die halbe Nacht am Handy erreichbar sein zu müssen. Sie fürchten sich vor dem Druck, der durch den Zwang ausgelöst wird, ständig neue Produkte oder Dienstleistungen durchzusetzen. Wohin des Wegs? Die deutsche Politik muss sich also entscheiden, ob sie diese (wachsende) Minderheit von "Entschleunigern" auf niedrigem Niveau alimentieren oder mit Brutalität in die Arbeitswelt des digitalen Kapitalismus werfen will. Der "deutsche Weg" hieße "bedingungsloses Grundeinkommen", "soziale Grundsicherung". Kein Zweifel, das kostet Wachstumsprozente. Kein Zweifel, das löst kulturelle Auseinandersetzungen aus. Der Mut, Ross und Reiter zu nennen, würde der politischen Klasse aber den peinlichen Eiertanz ersparen, bei dem immer wieder die Halbierung der Arbeitslosigkeit in x Jahren versprochen würde, ohne dass diese Versprechung jemals zu halten ist. Geboten wäre eine geschickte Mischung von intelligenten Leistungskürzungen (als Anreiz zur Annahme von Arbeit) und ein offenes Eintreten für das Mitnehmen (die "inclusion") des dritten Drittels der Gesellschaft. Die Sozialhilfereform der USA hat die Zahl der Begünstigten gewaltig gemindert. Ob diese Brutalität die Leistungskraft der amerikanischen Volkswirtschaft (und die Sicherheit in amerikanischen Städten) allerdings wirklich gesteigert hat, darf man bezweifeln. Natürlich haben das sowohl der Sozialdemokrat Gerhard Schröder als auch der christlich-soziale Edmund Stoiber begriffen. Trotzdem schlugen sie aufeinander ein wie die Kesselflicker. In Wahrheit sind sie in wirtschaftspolitischen Fragen nahe aneinander dran: zwei spontaneistische Industriepolitiker, die sich mit den großen Interessengruppen nicht anlegen wollen. Beide stehen mit ziemlich gespreizten Beinen in der Landschaft. Sie müssen den Spagat zwischen alten Stammwählerkontingenten und der Neuen Mitte schaffen, wenn sie auf 40 Prozent kommen wollen. Beide haben in dieser Debatte nur die eigenen Funktionäre überzeugt. Anders ist das in der Außenpolitik. Die Administration Bush lieferte Schröder ein handfestes Argument. Die Deutschen haben von Krieg die Schnauze voll. Also zog Schröder die Glacéhandschuhe des Diplomaten aus und redete Tacheles. Das kostete ihn die Sympathie der Leitartikler der Frankfurter Allgemeinen und die Zustimmung einiger Experten in außenpolitischen Thinktanks. Beim Volk aber drang er durch, weil seine Argumente ziemlich überzeugend waren. Zum einen ist der Angriff der muslimischen Selbstmordattentäter kein klassischer Krieg, der von Staaten ausginge. Afghanistan mag ein "Nest" gewesen sein. Wollte man aber alle "Nester" zerstören, müsste man wohl bald Präzisionswaffen gegen Hamburg oder Boston einsetzen. Der Vorwurf, die Europäer wiegten sich schon wieder in Sicherheit und hielten die terroristische Gefahr für gebannt, ist falsch. Die Informierten zweifeln nicht daran, dass demnächst europäische Kernkraftwerke, Wasserspeicher oder Chemiefabriken genauso angegriffen werden könnten wie das World Trade Center in New York. Sie fragen sich nur: Lassen sich lose geknüpfte Netze von religiös fanatisierten und todesbereiten Abkömmlingen gedemütigter Nationen durch Kriege gegen Staaten zerstören? Zweitens ist Bushs "moralische Klarheit" beim "Krieg gegen den Terrorismus" eine eindimensionale Sicht auf ein vielschichtiges Problem. Wer sind eigentlich "Terroristen"? Alle, die unschuldige Passanten und sogar Kinder in die Luft sprengen? Dann sind die französische Résistance gegen Hitler und der ANC in Südafrika auch Terrorismus gewesen. Gunst der Stunde Grenville Byford hat in der neuesten Ausgabe von Foreign Affairs realistisch bemerkt, dass man bei der Beurteilung von "Terrorismus" drei Kriterien anwenden müsse: die amerikanischen Interessen, die moralische Berechtigung des jeweiligen Kampfes und dann erst die (meist unsäglich brutalen) Methoden. Wenn Amerika bei der Bewertung von "Terrorismus" aber zuallererst US-Interessen in Anschlag bringt, muss Europa auch europäische Interessen bedenken dürfen. Die artikulierte der deutsche Kanzler. So gelang es ihm in letzter Minute, einen dahindümpelnden Wahlkampf durch seine Geistesgegenwart in Krisensituationen herumzureißen. Nur muss man wissen: Zwei von drei Impulsen kamen von außen - die Wasserflut im August und Dick Cheneys aggressive Reden Anfang September. Der Kanzler begriff beide Herausforderungen und schlug blitzschnell zu. Umgekehrt heißt das, dass der Wahlkampf der SPD nicht richtig funktioniert hat. Die sozialdemokratische Parteizentrale wurde unter Schröder genauso abgerüstet wie die christdemokratische unter Helmut Kohl. Ein "Servicezentrum" aber kann nicht kämpfen, sondern nur servieren. Das Wahlkampfquartier "Kampa" war vom Kanzler so weit weg, als sei es in Murmansk eingerichtet worden. Und das Kanzleramt ist, zu Recht, die Schaltstelle einer Regierung, kein Denkzentrum der Sozialdemokratie. Deswegen müssen sich die Strategen der SPD klar machen: Wenn die Wahl noch knapp gewonnen werden sollte, hat sie der Bauch Schröders gewonnen, nicht der Kopf der Partei. So etwas ist unwiederholbar.(DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.9.2002)