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Neun Monate und drei Wochen Haft für Mord an 200.000 Menschen
Erinnerungen an die Shoah von Richard Bugajer - Englische Ausgabe von "Mein Schattenleben" erschienen
Washington - Mindestens 200.000 Menschen wurden im
nationalsozialistischen Vernichtungslager Chelmno nahe dem Ghetto von
Lodz in Polen ermordet. Nach dem Ende des Nazi-Regimes kamen einige
der Täter vor Gericht. "Eines der Urteile im Chelmno-Prozess lautete
etwa: neun Monate und drei Wochen Haft für Beteiligung am Mord von
200.000 Menschen. Das Urteil wurde im Namen des deutschen Volkes
gefällt". Die Erschütterung und das Unverständnis über das Ausbleiben der
Gerechtigkeit für die Opfer der Shoah zieht sich durch das Buch "Mein
Schattenleben" von Richard Bugajer, das im Mai 2000 im Czernin-Verlag
erschienen ist. Aus der im Herbst 2002 erschienenen englischen
Ausgabe des Buches las Donnerstagabend Bugajers Sohn Michael-Gury in
der österreichischen Botschaft in Washington. Unter den Zuhörern war
Juval Rabin, Sohn des ermordeten israelischen Premierministers
Yitzhak Rabin, sowie der ehemalige US-Botschafter in Israel, Martin
Indyk.
Das "Schattenleben" war für Bugajer das in Kindheit und Jugend
erlebte Leid, der Verlust der Eltern, das Leben im Ghetto in Polen
und in den Konzentrationslagern in Auschwitz und Ebensee, erläuterte
seine Frau Hava-Eva Bugajer-Gleitman. Während er nach dem Krieg ein
sehr aktives und erfolgreiches Leben geführt hatte, sei da
gleichzeitig die Erinnerung an das andere Leben als von den Nazis
verfolgter Jude gewesen, unveränderbar und in seinen Gedanken immer
präsent. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt habe er begonnen, die
prägenden Episoden in Form kurzer Geschichten aufzuschreiben.
Richard Bugajer wurde 1928 im polnischen Kielce in einer jüdischen
Unternehmerfamilie geboren, mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen
wurde die Familie ins Ghetto von Lodz verbannt. 1944 wurde Richard
mit seinen Eltern nach Auschwitz deportiert, wo seine Mutter ermordet
wurde. Mit seinem Vater wurde er in mehrere Konzentrationslager
gebracht, im KZ Ebensee im Salzkammergut stirbt der Vater als Folge
von Entkräftung und Misshandlungen. Im Mai 1945 wird Richard Bugajer
von amerikanischen Truppen in Ebensee befreit. Die meisten seiner
Familienangehörigen wurden in den Vernichtungslagern Auschwitz,
Treblinka und Chelmno ermordet. Der schwer kranke 17-Jährige kommt
nach Monaten im Lazarett wieder zu Kräften. Er maturiert und lässt
sich nach dem Medizinstudium als Arzt in Wien nieder. 1998 stirbt er
im Alter von 70 Jahren.
"Mit den milden Urteilen gegen Naziverbrecher hat man es versäumt,
sich vom Massenmord an unschuldigen Menschen, von diesem einmalig
ungeheuerlichen Verbrechen eindeutig und mit Nachdruck abzugrenzen.
... Erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach dem Ende dieses
verbrecherischen Regimes, oder vielleicht auch erst in 20 oder noch
mehr Jahren, wenn die Eltern- und Großeltern-Generation nicht mehr
lebt, werden die Urenkel in einer Atmosphäre aufwachsen, die - wie
ich hoffe - eine objektive und ehrliche Beurteilung der Verbrechen
ermöglicht. Das wird auch einem ungestörten Verhältnis zum jüdischen
Volk den Weg ebnen", heißt es im Schlusswort des Buches.
Der Lagerkommandant des KZ Ebensee, Anton Ganz, konnte 1945 in
Österreich untertauchen. Ab 1949 lebte er unbehelligt unter eigenem
Namen in Deutschland. Erst 1972 wurde er zu lebenslanger Haft in neun
Mordfällen verurteilt, in der Anklage wegen 15.000-fachen
Mordversuchs aber freigesprochen. Er starb 1974 während des
Berufungsverfahrens als freier Mann an Krebs. (APA)