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Viaduc des Arts

Foto: Archiv
Rund viereinhalb Kilometer zieht sich die Trasse der aufgelassenen Bahnlinie von Bastille-Opéra bis zum Vorort Reuilly dahin. Neun Meter befindet sie sich über dem Straßenniveau und zugleich eine kleine Ewigkeit von der Stahltraversen-Romantik des frühindustriellen Arts&Crafts-Zeitalters entfernt. Dafür sorgte Anfang der 90er-Jahre auch Architekt Patrick Berger, der im Rahmen des Revitalisierungsprojekts obenauf eine begrünte Promenade setzte und, ähnlich wie am Wiener Gürtel, insgesamt 60 verlotterte Viaduktbögen zu dem "Viaduc des Arts" verwandelte. Möbelgalerien, Kunsthandlungen, Antiquariate sind hier untergebracht. Seit November 1995 auch die Organisation VIA (Valorisation de l'innovation dans l'ameublement), eine Art halbstaatlicher, vom Industrieministerium und dem Verband der Möbelindustrie aufgefütterter Non-Profit-Dinosaurier des französischen Designzirkus. Französische Design-Initiative Der Blick durchs Schaufenster der Avenue Daumesnil No. 29-35 ins Innere des von Jean-Michel Wilmotte gestalteten 900 Quadratmeter messenden Showrooms verrät die hoch gesteckten Ziele dieser wichtigsten französischen Design-Initiative mit recht charmanter Beiläufigkeit. Denn immerhin kann man hierorts mitunter auch internationale Coverstars entdecken, wie es sich für die Metropole Paris eben gehört: In knalligen Farben, strikt monochrom und komplett mit Gummi überzogen präsentiert sich das "Tykho Radio" des "eliumstudio"-Chefs Marc Berthier. Eine sonderbar archaisch anmutende Ikone eines Kofferradios, die zugleich perfekt zum Beach-Sound der nächstgelegenen Marsmännchen-Kolonie passen würde. Dieser ausladende Spagat ist typisch für das französische Design der Gegenwart. Ähnlich sahen das vor einigen Monaten auch die Art-Direktoren des amerikanischen Time Magazine . Als sich zur Abwechslung ein trendiges Designobjekt zwischen die zeitlosen Afghanenkäppis und Nahost-Bomben verirrte, die auf Titelblättern dieser Art normalerweise zu sehen sind, handelte es sich ausgerechnet um Berthiers französisches Gummiradio. Sicher versenkt in einer Goldfischkugel war es abgebildet. "The Rebirth of Design" textete das Time Magazine dazu. Und, in kleineren Lettern: "Function is out. Form is in." Ganz so oberflächlich sehen das die lokalen Designer, die heute Paris zum jüngsten Geheimtipp der Branche machen, freilich nicht. Auch wenn formale Verbindlichkeiten durchaus zu den charakteristischen Merkmalen der momentan international erfolgreichen jungen Pariser Szene dazugehören. Eher distinguiert-elegant als wirklich ultracool kommen die Objekte und Möbel der neuen Pariser Möbelmacher daher. Generation Starck und die neuen Stars "Frankreich setzt eher auf fließende Eleganz, auf Interpretationen des klassischen Chic", bemerkt dazu Christian Ghion. Mit 43 Jahren stellt der französische Entwerfer eine Art Missing Link zwischen der Generation Starck und den neuen Stars dar. Ghions Studio an der Rue Oberkampf, einer sympathisch durchmischten Straßenzeile im 11. Arrondissement, erinnert trotzdem mehr an die Tage der Pariser Hinterhof-Manufakturen. Dass am Vormittag Philippe Starck einige Modelle des neuen Stuhls "Paris - St. Etienne" bestellt hatte und Ghion vom nahe gelegenen Studio des Shootingstars und "Designer des Jahres 2002" Christian Biecher erzählt, als wär' er ein WG-Kollege, hat etwas Sympathisch-Familiäres an sich, das für die Pariser Szene dieser Tage nicht untypisch ist. Und um Family-Business im weiteren Sinn handelt es sich bei der langsamen Evolution des französischen Designs denn auch. Die Probleme der Entwerfer waren bislang ja recht ähnlich gelagert: Nur langsam besann sich die französische Industrie darauf, das lokale Design- Potenzial zu erkennen und auch einzusetzen. Häufig mussten japanische, neuerdings auch italienische Firmen wie Cappellini, in die Produzenten-Bresche springen, und Platzhirschen wie Philippe Starck und Pascal Morgue teilten sich das Gros des heimischen Kuchens. Paris - das Möbelmekka der Stunde Doch plötzlich ist alles anders. Paris ist das Möbelmekka der Stunde. Oder erfindet sich zumindest wieder einmal neu. Selbst internationale Stars wie der britische Minimalisten-Übervater Jasper Morrisson überlegen zurzeit die Übersiedelung ihrer Designbüros nach Paris - nicht zuletzt wegen der im internationalen Vergleich weit geringeren Kosten für Miete und Betrieb. Andere, wie Australiens Spitzendesigner Marc Newson, entdeckten die Stadt, die zurzeit einen wahren Boom an neu gestylten Restaurants, Klubs und Showrooms erlebt, bereits vor mehreren Jahren. Auch das Design selbst ist mit den Jahren gereift. "Die Tage der Basis-Experimente sind heute vorüber", ist Ghions Entwerferkollege Jean-Marie Massaud überzeugt, auch wenn er soeben den Prototypen eines Unterwasserfahrzeugs vom Schreibtisch hievt und sich mit nachwachsenden Algenmöbeln beschäftigt. Im Prinzip hat er trotzdem Recht mit seiner Aussage. Nun ist die Zeit der stimmigen Arrangements, der gekonnten Verwertung der Experimente gekommen. Minimalismus und Eleganz Ähnlich wie die Küchenchef-Generation nach der Revolution der Nouvelle Cuisine mischen französische Designer der Gegenwart gezielter denn je Stilzitate und Materialien. Minimalismus ohne Unterkühlung, Eleganz ohne Schwülstigkeit, Radikalität ohne Dogma. So ließe sich der Stil der Stadt heute umkreisen, ungeachtet der individuellen Handschriften der neuen großen Namen: Ronan und Erwan Bouroullec, Patrick Jouin, Matali Crasset, Jean-Marie Massaud, Radi Designers, Christian Biecher - um nur einige der bekanntesten zu nennen. Wer in den Annalen der eingangs erwähnten Organisation VIA blättert, findet dieses Who's who der Post-Starck-Generation übrigens wie bei einem Klassenfoto aufgelistet. Und zwar unter der Rubrik "Carte Blanche". Siebenundfünfzigmal wurde dieser Blankoscheck von der französischen Möbelindustrie bisher an Hoffnungsträger vergeben, das absolut Beste, was man sich als Jungdesigner wünschen kann. Immerhin garantiert die "Carte Blanche" Unterstützung im Rahmen eines frei gewählten Designprojekts, und zwar hinsichtlich Marketingfragen, technologischen Details und dann auch noch der Produktion selbst. Mit Ausstellungen wird anschließend für die Promotion im In- und Ausland gesorgt - eine für den interdisziplinären Ansatz der VIA typische Vorgangsweise. Denn auch Soziologen, Trendforscher, Städteplaner, Semiologen und Ergonomen tragen zum Trend-Monitoring bei. Blick auf die "verborgeneren Falten der Stadt" Hier kommt schließlich die Politik ins Design-Spiel. Was natürlich mit Macht und vielleicht ein bisschen auch mit Kultur zu tun hat. Schließlich befinden wir uns in Paris, wo die Haute Culture des Baulichen seit jeher die Eitelkeiten oder Ambitionen der jeweiligen Machthaber zu befriedigen hat. Nach dem Fünf-Milliarden-Euro-Spiel der Grands Travaux, wie Francois Mitterrands megalomane Bauprojekte heißen, soll Design nun da weitermachen, wo die Louvre-Pyramiden, der Grand Arche von La Défense, Dominique Perraults gläserne Büchertürme oder die viel geschmähte Bastille-Oper betreten verharren: in den verborgeneren Falten der Stadt. (derStandard/rondo/Robert Haidinger/20/9/02)