Kurzfristig hatte es so ausgesehen, als könnte es auch in Schweden zu einem Machtwechsel kommen. Dann aber fiel das Votum für die Sozialdemokratie doch noch ziemlich deutlich aus. Woran liegt es, dass ausgerechnet Schweden der rechten Flutwelle, die in den vergangene zwei Jahren viele Teile Westeuropas überzogen hat, widerstand?Ein nahe liegender Grund ist zunächst sicher die Außenpolitik: Anfang 2001 hielt Schweden die EU-Ratspräsidentschaft und bot Ministerpräsident Göran Persson, dem dominierenden Politiker des Landes, die Möglichkeit, sich im Rampenlicht zu sonnen. Die Sozialdemokraten profitierten auch von der Unterstützung, die sie den USA nach den Terroranschlägen des 11. September gewährten - weil sie mit dieser populären Position der Opposition den Wind aus den Segeln nahmen. Persson strahlt Kompetenz und Autorität aus. Er hat sein Image nach den gewonnenen Wahlen im Jahr 1994 durch konsequente Sparmaßnahmen und die Eindämmung eines enormem Budgetdefizits erheblich aufpoliert. Seit seinem erneuten Wahlsieg im Jahr 1998 hat er jedoch nichts Bemerkenswertes mehr vorzuweisen. Die schwedische Wirtschaft war untrennbar mit dem Aufstieg der IT-Luftblase verbunden wie auch - siehe die aktuellen Schwierigkeiten des Telekomgiganten Ericsson - mit deren Fall. Persson selbst punktete im Wahlkampf mit seiner persönlichen Ausstrahlung und einer im Präsidialstil geführten Kampagne. Aber Charakterstärke kann reale Probleme und den Wandel der politischen Herausforderungen nicht verdecken: Obwohl der schwedische Wohlfahrtsstaat im Ausland oft idealisiert wird, verliert die Wirtschaft des Landes seit 30 Jahren ständig an Boden. Im Jahr 1970 war das Pro-Kopf-BIP das vierthöchste der Welt, mittlerweile ist es auf Platz 17 der OECD abgerutscht. Schweden erzielt im Durchschnitt jedes Jahr ein Prozent weniger Wachstum als der Rest des Westens. Einer der Gründe für diese relativ missliche Lage ist, dass Schweden bei der Besteuerung weltweit führend ist, wobei Ausgaben der öffentlichen Hand beinahe 60 Prozent des BIP beanspruchen. Konservative verlangen Steuersenkungen, was allerdings unpopulär ist: Fast 65 Prozent der Schweden leben von öffentlichen Gehältern oder Transferleistungen. Anders als andere Europäer sind Schweden daher viel eher darauf bedacht, die Steuern hoch zu halten - was dem linken Flügel von vornherein einen hohen Stimmenanteil sichert. Überzogene Ansprüche Trotzdem sorgen sich die Schweden um die nachlassende Qualität der Leistungen, die vom sozialen Wohlfahrtssystem bereit gestellt werden. Sie klagen über jahrelange Wartezeiten für Augen- und Hüftoperationen - ein direktes Ergebnis einer sozialdemokratischen Reform von 1994, die das Recht der Patienten abschaffte, sich auf öffentliche Kosten um alternative Behandlung zu bemühen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten von ihrem regionalen Bezirk behandelt wurden. Die Sozialdemokraten haben ihre Ansichten in diesem Punkt während des diesjährigen Wahlkampfes auch geschickt revidiert, doch die Ansprüche an die Gesundheitsfürsorge gingen eindeutig zu weit: Nicht weniger als 14 Prozent der schwedischen Angestellten sind derzeit krank gemeldet - doppelt so viele wie vor fünf Jahren. Die Sozialdemokraten werten das als ernstes gesundheitliches Problem, die Nichtsozialisten als Ausdruck eines fehlerhaften Systems. Faktum ist: Viele Schweden sind zu der Überzeugung gelangt, dass es ihr gutes Recht ist, sich krank zu melden - unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. Nichts könnte den tatsächlichen Verfall des öffentlichen Gesundheitswesens deutlicher demonstrieren. Wie bei den meisten europäischen Wahlen der jüngsten Zeit spielte natürlich auch das Thema Einwanderung eine große Rolle, aber Schweden wich wie üblich von der Linie anderer Länder ab. Die kleine Liberale Partei, die sich im Wahlkampf für die unbegrenzte Zuwanderung von Arbeitskräften aussprach, konnte ihren Stimmenanteil verdreifachen. Die Liberalen plädieren vernünftigerweise dafür, dass jeder mit einem Job ein Arbeitsvisum bekommen sollte, dass Schwedischkenntnisse allerdings eine Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft sein müssen und dass arbeitslose Einwanderer fünf Jahre lang keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen dürfen. Ungefähr 70 Prozent der Schweden unterstützen die freie Einwanderung von Arbeitskräften - wesentlich mehr als anderswo in Europa. Sie erkennen, dass es sich bei den Einwanderern oft um qualifizierte Kräfte aus Osteuropäer handelt, darunter viele Ärzte, während die Anzahl der Schweden, die krank gemeldet oder in Frührente sind, auf ernste Probleme auf dem Arbeitsmarkt verweist. Premier Persson besteht allerdings - in einem wahren Kniefall vor den Gewerkschaften - darauf, die Einwanderung von Arbeitskräften insgesamt für die kommenden zehn Jahre zu blockieren. Obwohl diese Haltung die Sozialdemokraten viele Stimmen kostete, konnte dies kaum ihren wohl entscheiden Vorteil bei den Wahlen wettmachen: Das ungebührliche Maß an Kontrolle über wichtige öffentliche Güter, das sich die Partei während ihrer langen Amtszeit angeeignet hat. Zum Beispiel stehen beide großen staatseigenen Fernsehsender unter strenger Aufsicht der Sozialdemokraten; darüber hinaus hat die Partei durch Politisierung von Stiftungen und Universitätsausschüssen auch die Berufung von Professoren und die akademische Forschung unter Kuratel. Nach so langen Jahren sozialdemokratischer Herrschaft hat sich auch eine große politische Kaste herausgebildet. So besteht etwa die wichtigste Qualifikation zweier amtierender Minister darin, dass schon deren Eltern Minister waren. Und die Partei selbst schwimmt im Geld der Gewerkschaften, das aufgrund purer Vetternwirtschaft von der Besteuerung ausgenommen ist. Leichtes Spiel Doch die Schweden haben gezeigt, dass ihnen ihr Wohlfahrtsstaat immer noch gefällt und dass sie bei aller Sorge um die Qualität der öffentlichen Leistungen nicht bereit sind, bei der Wiederbelebung der Rechten in Europa mitzumachen. Schwedens Sozialdemokraten brauchen daher nicht viele Zugeständnisse zu machen, um ihre bemerkenswerte Stärke aufrecht zu erhalten - auch wenn dies die Integrität der schwedischen Demokratie schwächt. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.9.2002)