Wien - Würden die Menschenrechte auch für Tote gelten, könnte sich Joseph Haydn jetzt getrost an die zuständige Instanz in Straßburg wenden. Am Sonntag ist ihm im Musikverein schweres Unrecht widerfahren: Die Berliner Philharmoniker haben sich unter ihrem frisch amtierenden Chefdirigenten Sir Simon Rattle zu einer - mag sein, technisch virtuosen - öffentlichen Misshandlung seiner G-Dur-Symphonie (Hob. I:88) hinreißen lassen.

Sie hinderten ihn in den beiden Ecksätzen durch jagende Tempi am Atmen. Sie schnitten ihm im Largo den Leib auf, um schmerzlich das Geäder seiner Nebenstimmen freizulegen und in dröhnender Magnetresonanz den harmonischen Stoffwechsel auf störende Weise hörbar zu machen. Und sie brachten das Menuett durch vergröbernde Überbetonung sekundärer Details aus dem Gleichgewicht.

Eigentlich könnte auch Franz Schubert die Reise ins Elsaß antreten. Denn seine "Große C-Dur-Symphonie" bekam einige interpretatorische Blessuren ab: Vor allem weil Sir Simon versuchte, durch das Abrufen rhythmischer Extremwerte aus ihr eine Oper ohne Worte zu machen. Eine Schaueroper, aus der das lyrische Zwischenreich mit all seinen harmonischen Lichtwechseln vom ächzenden Hebelwerk der thematischen Bezüge zum Erlöschen gebracht wurde.

Natürlich kann man eine solche Annäherung an Klassik und Romantik auch zeitgemäß nennen. Und in der Weise, auf welche die genuine Eigenart der Werke auf schwer demütigende Weise übergangen wird, einen Musizierstil, der der viel gerühmten modernen Leistungsgesellschaft auf traurige Weise adäquat ist.

Unter diesem Gesichtspunkt macht es allerdings fast mehr Sinn, Werke, die unter dem Eindruck aktueller Lebensmaximen entstanden sind, auf das Programm zu setzen. Wie das vor zwei Jahren in Rattles Auftrag entstandene Gran Duo für Bläser des Finnen Magnus Lindberg (44). In seiner Folge von wenig zusammenhängenden kompositorischen Gemeinplätzen ist es ein legitimer Spiegel der omnipräsenten Ankündigungsrhetorik. Jeder Akkord könnte der Schlussakkord sein. Doch auf diesen hieß es lange 20 Minuten warten.

Das Publikum des Musikvereins tat dies mit voraussehbarer Langmut und war glücklich, nach Schubert erleichtert jubeln zu dürfen. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.9.2002)