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Philipp spielte den Zappelphilipp und bekam eine Ohrfeige. Philipp weinte nicht, dafür weinte meine Mutter, Sabine fing auch an zu weinen, sie weinte immer zusammen mit meiner Mutter." Einfache Sätze, deutliche Worte aus Ein Löffel in der Luft, Debütband der Schweizer Autorin Christine Rinderknecht (geboren 1954). Durch die klaren, geradlinigen Betrachtungen eines kleinen Mädchens entfaltet sich ein Bild der ganz normalen, paranoiden Familie, wie sie heute nur mehr in der Provinz auftritt - oder eher doch überall? Es sind beunruhigende Erkenntnisse über eine Welt, die nie ganz in Ordnung ist und doch so tut ("Der Großvater (...) klopfte mein Knie und sagte jäjä, das war Dorfsprache statt jaja, mehr sagte er nie, immer nur jäjä und klopfte mein Knie."). So entsteht eine (als Roman deklarierte) Novelle von einer Jugend an der Grenze zwischen Stadt und Dorf. Der Tod des ältesten Sohnes, Severin, hat ein Loch in eine Familienidylle gerissen. Von nun an herrscht Harmoniezwang. Das Foto des lächelnden Verstorbenen wird zu einer Ikone, an der die anderen Kinder zu scheitern scheinen. Doch sobald man fürchtet, alles geht den Bach runter, hält sich die Autorin unbeirrt an Fakten und erzählt trommelwirbellaut von der Wirklichkeit. Ein Leben zwischen kleinen Zauberwelten und kleinbürgerlichen Werten ist das: "Mutter stellte fest (...), wie unpraktisch ihre eigene Küche war, und vielleicht sollte man doch den Hauseingang abreißen und endlich vergrößern und warum nicht einen Anbau hinten an der Westseite, wo man gut noch ein ganzes Haus hinstellen könnte." Als eines Tages ein Kran einen Teil des Hauses kaputtschlägt - ohne Personenschaden, wie es so schön heißt - ist das nichts anderes als eine längst erwartete Katastrophe. Erfahrung mit Katastrophen hat man ja in der Halbprovinz. Besonderen Wert auf persönliche Entfaltung legt hier ohnehin keiner. Wer beim Arzt keine sofortige Antwort weiß, gilt als Diagnoseverzögerer: "Die schiefen Blicke galten meinem Vater, der vom Land kam und in der Stadt immer nervös wurde, mit seinem schwerfälligen Nachdenken teure Doktorzeit vernichtete und damit vielleicht anderen, schwerkranken Menschen genau die Zeit stahl, die sie für ihr Überleben gebraucht hätten." Der sensible und gleichzeitig energische Ton, den Christine Rinderknecht anschlägt, enstpricht dem Rhythmus der kleinen Dinge, der bei Beschreibungen von Jugendwelten (siehe Denton Welsh) fasziniert. Als durchgehendes Motiv findet man hier das Heimweh, bei Rinderkecht durchaus als Heimweh im intakten Heim zu deuten. Die Mutter "hatte Heimweh nach dem Leben von früher, als sie keine Mutter war und wir alle noch hinter dem Mond auf einem Haufen lagen", die Erzählerin findet sich in der Kindheitswelt aufgrund von einer individuellen Mischung aus Schicksal und Starrsinn sehr früh nicht mehr zurecht. Der Gegensatz Dorf - Vorstadt wird ihr lebenslang nachhängen. (Von Martin Amanshauser/DER STANDARD, Printausgabe, 14.09.2002)