Dem italienischen Dichter Gabriele d'Annunzio waren viele Mittel der Selbstdarstellung recht. Im frühen 20. Jahrhundert wählte er den Nebenberuf des Aviators. Vom Flugschau-Besucher zum Propagandaflieger tief in habsburgisches Feindesland: Peter Demetz rekonstruierte eine umstrittene Karriere.

Es begann mit Kafka. Einen Artikel von ihm, "Die Aeroplane in Brescia", entdeckte der in Prag geborene, seit 1948 im Westen lebende Literaturwissenschafter Peter Demetz in einer alten tschechischen Zeitung. Das führte ihn zur Rekonstruktion einer kuriosen Zeitgleichheit: Der Prager Schriftsteller Kafka, sein - im entferntesten Sinn - Kollege aus Italien, Gabriele d'Annunzio, und der Komponist Giacomo Puccini besuchten im September 1909 in der besagten norditalienischen Stadt eine Flugschau und lernten die Pioniere und Ingenieure der neuen Technik kennen

All deren Geschichten und weitere Schicksale beschreibt Demetz in seinem neuen Buch. Insbesondere widmet er einem Abenteuer d'Annunzios viel Raum, über das man seither viel gehört hat, aber wenig weiß: Der italienische Großdichter und Gransignore mit frühfuturistischen Attitüden machte im Ersten Weltkrieg als abenteuernder Flieger mit. Höhepunkt dieser Karriere war ein teils waghalsiger, teils spinnerter Flug über Wien.

Wir zitieren im Folgenden aus den Passagen über den Dichter als Bomben- und Flugblattwerfer.

Am 23. September 1916 erhob sich d'Annunzio den Warnungen seiner Ärzte zum Trotz wieder in die Lüfte. Dort fühle er sich wie neugeboren, ero rinato, schrieb er im Nachtrag zu "Notturno". Er flog mit einer ganzen Staffel - am Steuer saß sein Freund Gigi Bologna - nach Osten gegen den Stützpunkt von Parenzo, hielt einen Korb mit vier Bomben zwischen den Beinen und warf alle vier auf die habsburgischen Stellungen ab. Im Jahr darauf unternahm er neuerliche Bombenangriffe gegen die Österreicher. Mutig trotzte er der massiven Flugabwehr über Pula (wo James Joyce, ehe er in Triest an "Ulysses" arbeitete, dem Offizierskorps Englischunterricht erteilt hatte) und griff Cattaro, den wichtigsten Unterseebootstützpunkt, von der Luft aus an. Nur zwei der vierzehn Flugzeuge erreichten das Ziel, die übrigen gingen über dem Meer verloren.

Doch damit nicht genug. Nachdem er bereits 1910 an einen Flug nach Wien gedacht hatte, griff er diesen Gedanken 1915 wieder auf und argumentierte 1916 in "Leda senza cygno", dass ein solcher Angriff bereits mit Motoren von 300 PS durchgeführt werden könne. Er lag seinem Oberkommando damit in den Ohren und verfasste sogar ein Flugblatt, in dem er sich über "die senile Stadt des von Selbsttäuschungen geblendeten" letzten Habsburger Kaisers Karl, über die Unvereinbarkeit des "lateinischen Adels" mit der "Brutalität der Barbaren" äußerte. D'Annunzio schloss seinen Text, der vom Flugzeug aus über die ahnungslose Bevölkerung abgeworfen werden sollte, mit dem nicht gerade überzeugenden Argument psychologischer Kriegsführung, dass sich die Wiener glücklich schätzen könnten, das Licht der bevorstehenden italienischen Siege wahrzunehmen.

Das Oberkommando versuchte, die Aktion auf höfliche Weise abzuwehren. Doch d'Annunzio insistierte weiter, obwohl die Vorbereitungen alles andere als erfolgversprechend verliefen. Einer der vorgesehenen Offiziere wurde bei einem Unfall verletzt, ein anderer stürzte tödlich ab, ein Testflug wurde verlangt, den d'Annunzio glänzend bestand. Schließlich gab das Oberkommando nach und gestattete den Flug, der einem rein "politischen und demonstrativen Zweck" dienen und keinerlei Bedrohung für die Stadt darstellen sollte. Auch müssten Kämpfe mit der feindlichen Luftwaffe vermieden werden. Der Angriff sollte laut Befehl dazu dienen, "die unangefochtene Macht" der italienischen Luftwaffe im Wiener Luftraum als "Symbol der angeborenen Energie" der italienischen razza (Rasse) zu demonstrieren. D'Annunzio sollte die ganze Anerkennung als Leiter und Initiator des Unternehmens zukommen, das Kommando wurde aber einem Berufspiloten übertragen.

Nach weiteren, nicht nur wetterbedingten Verzögerungen erhoben sich am Morgen des 9. August 1918 um 5.15 Uhr elf Flugzeuge des 87. Geschwaders, eines mit d'Annunzio als Passagier an Bord, in geschlossener Formation, die bis zum Ende der Mission beibehalten werden sollte, in den Himmel des Flugfeldes über S. Pelagio nahe Padua. Nicht alle erreichten Wien. Kurz nach dem Start erlitt die Maschine von Kapitän Alberto Masprone, dem eigentlichen Befehlshaber, einen Motorschaden. Bei der Notlandung wurde das Flugzeug zerstört, der Kapitän zog sich eine Verletzung im Gesicht zu. Kurz darauf zwang ein defekter Motor Francesco Ferrini und Vincenzo Contratti zur Umkehr. Natale Palli, der Pilot des Dichters, übernahm die Leitung über die acht verbliebenen Maschinen auf ihrem mehr als 1000 Kilometer langen Flug.

Sie überflogen die Piave, flogen an Udine und Klagenfurt vorbei und nahmen über die Rax, Wiener Neustadt und Baden Kurs auf Wien. Um 8.15 Uhr machte d'Annunzio in einer Höhe von über 2000 Metern Notizen über die, wie er sie nannte, Teufelswand und das Flugfeld von Wiener Neustadt, wo sechs österreichische Kampfflugzeuge stationiert waren. Er notierte auch, dass einer seiner Fliegerkollegen wegen eines stotternden Motors aufgeben musste. Es war der in Barcelona geborene Giovanni Sarti, der bei Schwarzau auf dem Steinfeld nahe Wiener Neustadt wohlbehalten landete, sein Flugzeug vorschriftsgemäß in Brand setzte und unverzüglich von den Österreichern verhaftet wurde.

Wie aus dem bei seiner Einvernahme verfassten Protokoll hervorgeht, das sich im Wiener Kriegsarchiv befindet, erzählte er von seinem unzuverlässigen SVA-Motor und den aufgrund seines ununterbrochenen Einsatzes an der Front leidenden Nerven. Um 9.10 Uhr, in einer Höhe von 3000 Metern, notierte d'Annunzio, dass die Sonne über dem Wienerwald aufgestiegen sei, und um 9.20 Uhr hatten sieben italienische Flugzeuge Wien erreicht. Über den inneren Bezirken der Stadt, vor allem dem Graben und rund um den Stephansdom, leerten sie ihre Behälter mit den Flugblättern. Statt in Deckung zu gehen, versammelten sich die Wiener auf den Straßen, um das Schauspiel zu genießen.

Die Flugzeuge kehrten danach um und flogen über Wiener Neustadt, Graz, Ljubljana, Triest und Venedig nach S. Pelagio zurück, wo sie um 12.40 Uhr sicher landeten. Die k.u.k. Abwehr hatte nicht eingegriffen. (...)

Hunderttausende weiße oder in den Farben der Trikolore gedruckte Flugblätter wurden über Wien abgeworfen, manche stammten von d'Annunzio, andere von dem Journalisten und Literaturkritiker Ugo Ojetti, der ein treuer, doch nicht unkritischer Freund d'Annunzios war. Der Wortlaut des Textes war nicht mit jenem früheren über die mythischen Konflikte zwischen der lateinischen und der barbarischen Rasse identisch. Jetzt hieß es, dass den Österreichern ihr Stündchen geschlagen habe und die Armeen der Entente an der Piave und an der Marne kurz vor dem Sieg stünden; Österreich solle sich nicht länger von Deutschland "herunterziehen, erniedrigen und infizieren" lassen. Zu Recht behauptete Ojetti, d'Annunzios Text sei zu poetisch und unübersetzbar und würde sich auf deutsch gekünstelt und tölpelhaft, goffissimo, anhören. Ojetti war darum bedacht, dass der seine klar an die kriegsmüden und hungrigen Wiener appellieren sollte. (...)

Er appellierte auch an die Intelligenz der Wiener und fragte, warum sie weiterhin den Versprechungen der preußischen Generäle Glauben schenkten. Ihnen zu vertrauen, hieße auf das berühmte Brot aus der Ukraine warten - in der Zwischenzeit würden alle verhungern!

Es ist schwer zu beurteilen, ob die Wiener Mission erfolgreich war, aber die in der Wiener Presse publizierten Berichte und Kommentare enthüllten etwas von den Eindrücken der kühnen Operation, der Reaktion des Oberkommandos und der Haltung der Bevölkerung. Laut Aussagen lokaler Beobachter handelte es sich um sieben oder acht Flugzeuge; um 16 Uhr waren es nur mehr sechs - tatsächlich waren es sieben. Offizielle Kommentatoren betonten, dass es schwierig gewesen sei, die Bevölkerung vor dem Angriff zu warnen, da die Staffel außerhalb der Reichweite des Frühwarnsystems geflogen sei, und der arme Giovanni Sarti, den ein Motorschaden zur Notlandung gezwungen hatte, wurde als Beleg für die präzise Arbeit der Fliegerabwehr genannt. Tatsächlich eröffneten nur die Fliegerabwehrbatterien von Ljubljana das Feuer auf die zurückkehrenden Italiener, allerdings ergebnislos.

Aufklärung seitens des österreichischen Oberkommandos über den italienischen Einfall und über die Untätigkeit der österreichischen Kampfflugzeuge gab es keine. Die Flugzeuge konnten zunächst nicht identifiziert werden, zahlreiche österreichische Beobachter berichteten von "Brandenburg"-Fliegern, dem herkömmlichen Typus der österreichischen Luftwaffe, andere wussten aber schon zu Mittag, dass der Überfall von d'Annunzio initiiert worden war.

Zumindest zwei Zeitungen, die konsequent konservative Reichspost und die sozialistische Arbeiter-Zeitung, vermuteten unisono, der Angriff sei eine "aviatische Leistung", die nicht aus politischen Gründen heruntergespielt werden sollte. Es sei eine "hervorragende Leistung" gewesen, die starke Nerven und eine gute physische Konstitution erforderte, insbesondere angesichts des orkanartigen Gegenwindes, der den Piloten in ihren offenen Cockpits ins Gesicht blies (Arbeiter-Zeitung). Ein "denkwürdiges" Erlebnis in der Wiener Kriegsgeschichte, hieß es weiter, aber die Bevölkerung habe keine heroischen Gefühle demonstriert. Die Zeitung berichtete noch von Erlebnissen gewöhnlicher Bürger - ein Kammermusiker etwa, ein Parkwächter oder ein akademischer Maler aus dem vierten Bezirk, der sich seines Opernglases bediente. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Leute die Flugzeuge lange Zeit für österreichische hielten, ehe sie bemerkten, dass das schwarze Kreuz fehlte und dass es sich um italienische handelte.

"Die Menschen bewahrten absolute Ruhe", berichtete die bürgerlich liberale Neue Freie Presse. Es sei zu keiner Panik gekommen, denn die Bewohner glaubten tatsächlich, dass es sich um österreichische Flugzeuge auf einem Probeflug vom nahen Flugfeld in Aspern handelte oder um einen weiteren Werbeflug der Regierung für Kriegsanleihen. Die Wiener Polizei hatte für den Fall eines Luftangriffs eine Reihe von Verhaltensmaßregeln vorgeschrieben, wie das sofortige Verlassen von Straßen, Balkonen und Fenstern. Die Menschen verfolgten die Ereignisse jedoch mit großer Neugier, die Dächer waren gerammelt voll, so die Arbeiter-Zeitung, und die Menge sammelte sich oft, um Flugblätter zu erhaschen, die stoßweise in kleinen Papierhüllen vom Himmel fielen. In der ersten Ausgabe ermahnten die Zeitungen ihre Leser noch, die Flugblätter nicht weiterzugeben - was einem Hochverrat gleichkäme -, sondern bei der Polizei abzuliefern. Viele lasen sie, aber d'Annunzio, der seinen Auftritt im Burgtheater im Jahre 1900 sehr genossen hatte, hatte eine schlechte Presse. Sein Stil wurde als "komisch" oder schwülstig bezeichnet. Ojetti hatte mehr Erfolg; um 16 Uhr erließ das Pressebüro der Regierung - ein Akt extremer Dummheit oder eine geniale österreichische Leistung? - ein offizielles Kommuniqué mit dem vollen Wortlaut von Ojettis Text, den alle Zeitungen - rechte, gemäßigte und linke - in voller Länge abdruckten. Karl Kraus setzte in der Zeitschrift Die Fackel noch einen abschließenden Punkt darauf. Er zitierte einen Bericht, in dem es hieß, ein Flugzeug sei über dem Villenviertel Rodaun gesehen worden; und er fügte hinzu, d'Annunzio habe gewiss beim berühmten Dichter Herrn von Hofmannsthal persönlich vorbeischauen wollen, damit dieser sich für den Besuch eines Tages revanchiere.

In den Hauptstädten der Entente war d'Annunzios Flug eine absolute Sensation. Vom britischen Oberkommando wurde der Dichter zum Tee ins Londoner Savoy eingeladen (einst hatte man ihm das Kriegskreuz verliehen). Warum er dort niemals auftauchte, ist unklar. Er flog zwar noch einmal über Nordfrankreich, kehrte jedoch gleich darauf nach Italien zurück; es war, im September 1918, sein letzter Flug. Die Jahre seines Alters in der Villa von Gardone am Gardasee waren kein Adlerflug zwischen den Wolken, eher eine Zeit zermürbender Anpassung. Er ließ sich vom faschistischen Staat unterstützen, kritisierte den Duce gelegentlich, rühmte ihn öfter und empfing ihn zu grimmigen Besuchen (der Duce mit steifer Melone und d'Annunzio in Phantasieuniform). Nicht nur der Polizeipräfekt der Region bespitzelte ihn und rapportierte täglich nach Rom, auch das deutsche Außenamt hatte eine Agentin in seinen Harem eingeschleust. Die letzten Lebensjahre verschwendete er mit Drogen und örtlichen Prostituierten. Es war, als sei Ikarus freiwillig in einen goldenen Käfig zurückgekehrt. Ob d'Annunzio wusste, wie tief er gefallen war?

(DER STANDARD; Printausgabe, 14.09.2002)